Eines ist klar: Ohne gemeinschaftliche Solidarität gibt es keine Zivilisation. Aber der Gesellschaftsbegriff ist im raschen Wandel begriffen.

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Es ist einer der meistzitiertem Sätze der konservativen Ikone Margaret Thatcher: "Gesellschaft – die gibt es nicht", sagte die britische Premierministerin 1987 in einem Interview. "Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und ihre Familien."

Jahrzehnte später ist das Zitat umstrittener und relevanter denn je. In der Corona-Pandemie scheint sich alles um die Gesellschaft und ihr oberstes Lenkungsinstrument, den Staat, zu drehen. Im Interesse der Gemeinschaft müssen Millionen auf Arbeit, Vergnügungen, reguläre Bildung und selbst soziale Kontakte verzichten, während der Staat verlorenes Einkommen ersetzt und für immer mehr Menschen den Lebensunterhalt bestreitet.

Gleichzeitig gehen jede Woche Tausende auf die Straße, weil sie ihre persönlichen Freiheiten nicht der Gesellschaft unterordnen wollen. Und in einer stillen Rebellion lassen sich laut einer Umfrage der Uni Wien rund 40 Prozent der Bevölkerung gar nicht testen, obwohl kostenlose Covid-Tests überall angeboten werden. Dass sie damit ihre Umgebung gefährden, ist ihnen weniger wichtig.

Wie viele sich nicht an die Corona-Beschränkungen halten, ist unbekannt; die steigenden Infektionszahlen deuten darauf hin, dass eine bedeutende Minderheit sich auch diesen gesellschaftlichen Zwängen nicht unterordnen will. Für sie gilt Thatchers Maxime: Wir sind alle Individuen; Gesellschaft – die gibt es nicht.

Starke Solidarität der Millennials

Wohlgemerkt ist es eine Minderheit. Gerade unter jüngeren Menschen ist der Gemeinschaftssinn besonders stark ausgeprägt, sagt die Kulturwissenschafterin Judith Kohlenberger von der WU Wien, die sich in ihrem Essayband Wir auch mit solchen Fragen auseinandersetzt. "Es heißt, die Millennials sind zunehmend individualisiert und suchen vor allem die Selbstoptimierung", sagt sie. "Aber bei der Reaktion auf die Pandemie oder bei der Fridays-for-Future-Bewegung beobachten wir starke Solidarität und das Bedürfnis nach Gemeinschaft."

Diese Einstellung der Jüngeren stimmt optimistisch. Denn so wichtig persönliche Freiheiten auch sind: Ohne eine solidarische Gesellschaft gäbe es keine menschliche Zivilisation und wahrscheinlich gar keine Menschheit.

Die Spannung zwischen Einzelnen und Kollektiv ist so alt wie die Geschichte. Und seit Anbeginn stellt sich das gleiche Problem: Als Individuen existieren wir real, die Gesellschaft aber ist eine Fiktion.

Klatsch und Tratsch

Der israelische Historiker Yuval Harari hat in seinem Weltbestseller Eine kurze Geschichte der Menschheit beschrieben, wie der Homo sapiens erst durch Zusammenarbeit in der Gruppe aller physiologischen Nachteile zum Trotz überleben und sich dann über den Erdball verbreiten konnte. Das wichtigste Werkzeug für dieses Ziel ist die Sprache, und deren Hauptfunktion ist für Harari der Klatsch und Tratsch, der Menschen emotional zusammenschweißte und die Formierung von Gruppen ermöglichte, die die übliche Herdengröße von rund 50 Tieren übertrafen.

Noch wichtiger aber ist die Möglichkeit der Sprache, fiktive Vorstellungen und Mythen zu schaffen, an die die Menschen wirklich glauben. Erst "die Fähigkeit, mit bloßen Worten eine Wirklichkeit zu erschaffen, macht es möglich, dass große Gruppen von wildfremden Menschen effektiv zusammenarbeiten", beschreibt Harari die Kraft, die Stämme, Städte und Völker und schließlich Weltreiche mit einer immer komplexeren Arbeitsteilung entstehen ließ.

Gleiche Regeln für alle

Gesellschaft ist zwar eine Illusion, aber eine, die die Welt erobert hat. War es einst vor allem der gemeinsame Glaube an ein höheres Wesen oder die gottgewollte Herrschaft einer Familie, der Menschen dazu brachte, sich dem Willen einer Gemeinschaft unterzuordnen, so sind es heute vor allem Gesetze, auf denen jede politische Ordnung basiert.

Der im 19. Jahrhundert entstandene Nationalstaat war dabei besonders effektiv. Der US-Politikwissenschafter Benedict Anderson prägte den Begriff der "imagined communities" (erfundenen Gemeinschaften), um die Entstehung von Nationen zu erklären. Für ihn waren Hymnen, Flaggen und Nationalmuseen dafür genauso wichtig wie Ministerien oder das Militär, damit Millionen von Menschen das Streben nach dem eigenen individuellen Vorteil im Interesse der Gemeinschaft zurückstecken – die Straßen sauber halten, Steuern zahlen, Verträge erfüllen und notfalls in den Krieg ziehen.

Denn nur auf Basis von Gewalt und Angst vor Strafe kann kein Gemeinwesen langfristig funktionieren. Gebraucht wird auch das Vertrauen des Einzelnen, dass der andere die gleichen Regeln kennt, akzeptiert und im Normalfall auch einhält.

Gestehen oder schweigen

Diese Herausforderung beschreibt die Spieltheorie im berühmten Gedankenexperiment des Gefangenendilemmas: Zwei Männer werden eines kleinen Delikts überführt und eines größeren Verbrechens verdächtigt. Sie werden einzeln verhört und dabei vor die Wahl gestellt, das Verbrechen zu gestehen oder zu schweigen. Gesteht nur einer von ihnen, geht dieser frei.

Schweigen sie beide, erhalten sie nur die milde Strafe für das bekannte Vergehen. Sehen sie sich als Gemeinschaft mit gemeinsamen Interessen, ist das beidseitige Schweigen die beste Option. Doch wenn auch nur einer das nicht tut, wird er gestehen und sich einen kurzfristigen Vorteil verschaffen, egal was der andere tut. Eine rein individuelle Sichtweise führt dazu, dass beide zu längeren Haftstrafen verurteilt werden.

In der Pandemie wird dem Einzelnen im Interesse der Gemeinschaft viel abverlangt.
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Das gilt für alle Formen des menschlichen Zusammenlebens und erklärt, warum manche Staaten funktionieren und andere scheitern. In Ländern, in denen das Vertrauen in die Gesellschaft fehlt, ist auch der Staat meist zu schwach, um die Einhaltung der Regeln durchzusetzen. Dort werden kaum Steuern bezahlt, dort blüht die Korruption. Es fehlt dann an Straßen, Schulen, Spitälern und Sicherheit – an allem, was die politische Ökonomie als öffentliche Güter bezeichnet.

Wo die gesellschaftliche Solidarität fehlt, übernimmt meist die Familie diese Funktion; dort stehen die Menschen dann füreinander ein. Doch das Bild der Familie als Keimzelle der Gesellschaft, das auch Thatcher einst beschwor, ist trügerisch: Wird nur auf die eigenen Verwandten geschaut, wird das Gemeinwohl umso mehr zur Beute rivalisierender Partikularinteressen. Familie ist wertvoll, Gesellschaft aber ist notwendig.

Der Markt braucht Regeln

Das Primat der Gesellschaft widerspricht nur scheinbar dem individuellen Gewinnstreben als entscheidender Triebkraft in der Marktwirtschaft. Denn gerade der Kapitalismus braucht ein striktes Regelwerk, das von allen eingehalten wird, damit er tatsächlich Wohlstand schaffen kann. Ein Markt funktioniert nur, wenn es Rechtssicherheit gibt und man daher auch Fremden vertrauen kann.

Ohne die kollektive Kraft einer Gesellschaft, die für öffentliche Güter sorgt, führt individuelles Streben in eine zerstörerische Anarchie. Und gerade in der Wirtschaft sind kollektive Fiktionen entscheidend; sonst gäbe es keine Unternehmen und Konzerne, in denen tausende, oft zehntausende Beschäftigte produktiv zusammenarbeiten.

Klimaschutz als öffentliches Gut

Das derzeit wichtigste öffentliche Gut ist der Klimaschutz: Es hängt vom Verhalten jedes Einzelnen ab, ob der Ausstoß der Treibhausgase schnell genug verringert werden kann – aber nur, wenn dies kollektiv und weltweit geschieht. Sobald man merkt, dass andere nicht mittun, schwindet der Anreiz zum verantwortlichen Handel. Das gilt innerhalb eines Staates genauso wie auf der globalen Ebene.

Doch wenn die anderen ihren Beitrag leisten, eröffnet sich für einzelne Bürger oder Staaten die Chance, selbst etwas weniger zu tun, ohne dass man dadurch Schaden nimmt. Man wird so zum Trittbrettfahrer. Je größer deren Zahl, desto mehr schwinden die Erfolgschancen für das Erreichen der Klimaziele. Die Hoffnung, für diese globale Krise ein weltumspannendes Gemeinschaftsgefühl zu schaffen, um so die Einzelinteressen zu überwinden, bleibt bisher unerfüllt.

Auch der Kampf gegen die Corona-Pandemie leidet unter diesem Trittbrettfahrerproblem: Überwog vor einem Jahr noch die gesellschaftliche Solidarität, so ist heute vielen die Lust daran vergangen. "Schau auf dich" mag für die meisten immer noch ziehen, "Schau auf mich" schon viel weniger. "Solidarität braucht Vertrauen, und Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit", sagt Kohlenberger. "Wenn ich sehe, dass mein Nachbar sich nicht an die Beschränkungen hält und keine Maske trägt, dann werde ich auch viel seltener eine Maske tragen."

Jenseits des Nationalgefühls

Der Kitt der Gesellschaft hat sich über die Jahrhunderte stets gewandelt. Denn auch das ist eine der Stärken der fiktiven Wirklichkeit, die das Gehirn des Menschen hervorbringt: Sie passt sich innerhalb kürzester Zeit an veränderte Bedingungen an.

Bis zur Zeit der Aufklärung hätte es ohne den festen Glauben an göttliche Gesetze und das Gottesgnadentum von Monarchen keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt gegeben, der über eine Dorfgemeinschaft hinaus gewirkt hätte. Mit der Französischen Revolution nahm der Nationalismus immer stärker diese Aufgabe ein. Er war oft mit rassistischen Haltungen und Aggression gegen Außenstehende verbunden.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat zumindest in Westeuropa das traditionelle Nationalgefühl an Bedeutung verloren. Laut dem Trend Radar des österreichischen Bundesheers von 2020 sind nur 29 Prozent der Bevölkerung bereit, die Heimat gegen einen militärischen Angriff mit der Waffe zu verteidigen; selbst unter Männern sind es nur 42 Prozent.

Solidarität hat andere Formen angenommen. Innerhalb Europas ist sie noch nicht besonders ausgeprägt, das zeigen die vielen Konflikte in der EU über Finanzhilfen, die Aufnahme von Flüchtlingen oder nun über Impfstoffe. Dafür ist die Definition von Gesellschaft – wer dazugehört und wer außen steht – heute deutlich offener als noch vor einer oder zwei Generationen, sagt Kohlenberger. "Im Zeitverlauf kann man beobachten, dass sich das österreichische ‚Wir‘ tendenziell öffnet. Dass Muslime heute bei uns dazugehören, hätte man vor 50 Jahren anders gesehen."

Der Kontakt ist entscheidend

Entscheidend für die Schaffung eines neuen Gemeinschaftsgefühls seien persönliche Kontakte zu Menschen, die anders sind, betont die Kulturwissenschafterin und verweist dabei auf die Kontakttheorie aus den 1960er-Jahren. Deshalb sei auch die Solidarität auf der regionalen Ebene – etwa im Bundesland oder im Dorf – oft stärker als auf der nationalen.

"Aber selbst im kleinsten Bereich, von Dorf zu Dorf, gibt es einen Abgrenzungsmechanismus zum anderen. Der persönliche Austausch ist wirkmächtig", sagt Kohlenberger. Ziel einer toleranten Gesellschaftspolitik müsse es sein, dass aus der Abgrenzung keine Ausgrenzung wird.

Die andere Erwartung an eine moderne Gesellschaft ist, dass sie neben der Solidarität auch die Freiheit stärkt, das Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Anders als früher schreibt in Westeuropa niemand mehr vor, wie man sich anzuziehen hat, woran man glauben soll oder wie man Partnerschaften und Familienleben gestaltet. Dort, wo es die Interessen der anderen nicht beeinträchtigt, erhält der Individualismus immer mehr Raum.

Gleichzeitig aber werden die Grenzen zum anderen enger gezogen und dadurch gewisse gesellschaftliche Regeln wieder verschärft – wie die aktuelle Debatte über Identitätspolitik zeigt. Aber gerade diese transnationale Bewegung macht deutlich, dass die Definition der Gesellschaft nur noch wenig an nationale Grenzen gebunden ist.

Wir wissen immer weniger, was Gesellschaft eigentlich ist. Wir wissen nur, dass sie sich rasch verändert. (Eric Frey, 27.3.2021)