Tagungsorte des EU-Gipfels waren diesmal wieder alle EU-Hauptstädte, die Debatten wurden Corona-bedingt auf Distanz ausgetragen.

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Es läuft überhaupt nicht rund beim gemeinsamen Krisenmanagement in der Europäischen Union, und schon gar nicht zwischen West und Ost, wie es die Medizinerin Ursula von der Leyen gerne hätte. Das spüren seit dem Start der EU-weiten Impfaktion zum Jahreswechsel nicht nur die Institutionen der Gemeinschaft, voran die EU-Kommission, deren Präsidentin sie ist.

Sie arbeitet dort Tag und Nacht gegen die Pandemie an – auch an Wochenenden. Neben ihrem Büro hat sie eine kleine Maisonette, wo sie wohnt und schläft, rund um die Welt telefoniert, chattet, Videokonferenzen abhält. Eine ruhige Arbeit, rational, hoch oben mit Überblick, ohne viel Kontakt zur "Straße". Berichte über Fehlschläge und Kritik kommen hier gut abgefedert herein.

In den Hauptstädten der Mitgliedstaaten ist das etwas anders. Dort bläst der Wind – die Wut der Bürger – den Regierungschefs hart und direkt ins Gesicht. Anders als EU-Beamte müssen sie den Menschen Zuhause serienweise Einschränkungen im Lebensalltag auferlegen. Die dritte Infektionswelle wälzt sich gerade über gut die Hälfte der EU-Staaten, mit harten Lockdowns als Folge. Kein Wunder, wenn sich Frust und Enttäuschung tief in die Vielvölkerunion hineingefressen haben.

Wütende Landsleute

Und dann: Es gibt zu wenig Impfstoff. Wieso kommt der so langsam, wo doch in Israel schon fast die ganze Bevölkerung geimpft ist und in den USA und Großbritannien mehr Menschen als bei den EU-Musterschülern? "Wann werde ich endlich geimpft?", schallt es den 27 Staats- und Regierungschefs überall entgegen, wo immer sie gerade sind.

Das mag nur einer, aber der vielleicht wichtigste Grund gewesen sein, warum der jüngste EU-Gipfel komplett überschattet war vom Streit über eine solidarische Korrektur bei der realen Auslieferung von Impfdosen. Bei den Staats- und Regierungschefs liegen die Nerven blank. Jede und jeder kämpft gerade kompromisslos um Kontingente, als wären es Jagdtrophäen für die eigenen Landsleute.

Wer erst einmal Millionen Impfdosen hat, von welchem Hersteller auch immer, will nichts mehr hergeben – oder nur wenig. Wem Impfstoff fehlt, sucht Wege, ihn irgendwo irgendjemandem irgendwie abzujagen. Öffentlich zugeben will das niemand. Offiziell bekennen sich alle zur Gemeinsamkeit, dazu, dass die Impfstrategie von der Kommission fair umgesetzt werden soll, ohne Alleingänge. So hat man das nämlich bereits im Juni 2020 beschlossen. Deshalb sollte auch jedes Land gleich viele Impfdosen entsprechend dem jeweiligen Bevölkerungsanteil in Europa bekommen.

Sinistrer Sekundärmarkt

Leider hat das nicht funktioniert, weil die Staaten – je nach Interessenlagen, Finanzkraft oder nationalen Vorlieben – eine Art Sekundärmarkt eingeführt hatten. Gegen den Rat der Kommission, die wollte, dass alle in einen Topf einzahlen und Dosen via Verteilungsschlüssel vergeben werden.

Als sich die Zulassung von Impfstoffen verzögerten, Lieferprobleme aufkamen, ruchbar und sichtbar wurde, dass EU-Staaten unterschiedlich schnell impfen, fing es an zu brodeln. Der Abstand bei den Immunisierungsraten wurde größer und größer. An der Spitze standen lange Malta und Dänemark, dann auch Zypern. Die Osteuropäer und Balten gerieten immer mehr ins Hintertreffen.

Aber niemand wollte das zunächst groß öffentlich zum Thema machen. Nicht die nationalen Regierungen, auch nicht die Kommission – ganz im Gegenteil: Von der Leyens Stäbe arbeiteten hart daran, lieber den Druck auf die Pharmakonzerne zu erhöhen, ihren Stoff nicht in Drittländer zu verfrachten, sondern die EU-Lieferverträge einzuhalten. Um das durchzusetzen, wurden im Schnellverfahren sogar Exportverbote geschaffen – vor allem wegen Großbritannien, wohin etwa Astra Zeneca große Mengen lieferte.

Korrekturkontingent

Beim EU-Gipfel am Donnerstag wollte die Kommissionschefin nun eine "Wende" verkünden: Aus Europa seien bisher 77 Millionen Impfdosen in die Welt ex-, aber nichts importiert worden. Damit werde bald Schluss sein. Zudem werde der Output für die EU-Staaten angekurbelt: Im zweiten Quartal würden mehr als 300 Millionen Dosen ausgeliefert, dank der Produktionserhöhungen – 460 Millionen insgesamt seit 1. Jänner.

Damit werde man, so versichert sie, bis Sommerbeginn das EU-Impfziel erreichen, den freien Personenverkehr "befreien", den Tourismus retten. Mittels eines Korrekturkontingents von zehn Millionen Dosen könnte man auch die Nachzügler in Osteuropa auffangen, bevor sie in Russland und China einkaufen.

Es hätte von der Stimmung her also eigentlich ein "Erfolgsgipfel" werden sollen. Hätte. Denn man konnte sich im Vorfeld nicht auf die Korrektur einigen, die der österreichische Kanzler Sebastian Kurz als Anführer einer Gruppe mit Bulgarien, Lettland, Slowenien, Kroatien und Tschechien seit zwei Wochen gefordert hatte.

Weil Kurz für das Problem den EU-Lenkungsausschuss verantwortlich machte, sich selbst aber unwissend gab, zog er sich den vollen Zorn der Spitzenreiter – Dänemark, Niederlande, Deutschland, Malta, Zypern – zu. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel fand es unerträglich, dass der Österreicher die Schuld Brüssel zuschob – und Österreich davon auch noch profitieren solle.

Ohne Gesichtsverlust

Es wurde stundenlang debattiert, um Zahlen gestritten, ehe man sich auf eine Lösung ohne Gesichtsverlust verständigte: Von der Leyens Korrekturkontingent von zehn Millionen Dosen soll solidarisch verteilt werden. Umsetzen müssen das die 27 EU-Botschafter, nicht mehr der Lenkungsausschuss.

Also kein Zurück zum Start, sondern eine Verschiebung. Die Kurz-Gruppe beharrt darauf, dass ihr geholfen wird, unterstützt von anderen kleinen Staaten. Die dänische Premierministerin Mette Frederiksen, aber auch Italiens Premier Mario Draghi fordern, dass Österreich "nicht eine Impfdose mehr" kriegen soll.

Das zu lösen sei "eine Quadratur des Kreises", erklärte Merkel die neue Lage und sprach sich erstmals auch für eine solidarische Lösung aus. Damit hat sie seit 15 Jahren auf EU-Ebene Erfahrung. Also sieht die Lage nicht mehr so hoffnungslos aus. (Thomas Mayer, 27.3.2021)