Der Rechtshistoriker Thomas Olechowski erinnert im Gastkommentar an Beschimpfungen, die Hans Kelsen seinerzeit ertragen musste. Dennoch könne man dem Wunsch nach Transparenz nachkommen, ohne Richter und Richterinnen vor den Vorhang zu zerren.

Unter einer "dissenting opinion" wird die in vielen Staaten übliche – und nun auch in Österreich diskutierte – Möglichkeit verstanden, dass einzelne Mitglieder eines Richterkollegiums, nachdem sie in der Abstimmung unterlegen sind, ihre von der Mehrheit abweichende Meinung separat veröffentlichen. Rechtliche Auswirkungen hat eine "dissenting opinion" nicht, allein, sie bringt die bis dahin geheim gehaltenen Diskussionen bis zu einem gewissen Grad an die Öffentlichkeit und legt die Argumente pro und kontra eine Entscheidung bloß.

Befürworter eines solchen Systems erhoffen sich damit Transparenz der Entscheidung und Diskussionsmaterial für die Rechtswissenschaft. Gegner befürchten, dass damit die einzelnen Richter und Richterinnen vor den Vorhang gezerrt werden und einzeln Farbe bekennen müssen, was sie unter persönlichen Druck bringen könnte. Denn wohlgemerkt: Auch die Entscheidung, seine Sondermeinung nicht zu veröffentlichen, ist eine Entscheidung, die der Öffentlichkeit nicht verborgen bleibt!

Erinnerung an Kelsen

Gerade was den Verfassungsgerichtshof (VfGH) betrifft, so sei an die persönlichen, gehässigen und unflätigen Beschimpfungen erinnert, die sein Mitglied Hans Kelsen 1927 ertragen musste, als er sich öffentlich zu einer Judikaturlinie des Gerichts bekannt hatte, die – stark vereinfacht gesagt – die Wiederverheiratung noch zu Lebzeiten des ersten Ehegatten ermöglichte (die gesetzliche Einführung der Ehescheidung erfolgte erst 1938). Sie waren mitursächlich dafür, dass jener Mann, der sich wie kein anderer um die Schaffung der Verfassungsgerichtsbarkeit verdient gemacht hatte, Österreich für immer verließ und in die Emigration ging.

Kelsen-Büste im Verfassungsgerichtshof.
Foto: Matthias Cremer

Österreichisches Phänomen

Die Sorge, dass die Einführung der "dissenting opinion" die Verfassungsrichter und -richterinnen künftig davon abhalten wird, "mutige" Entscheidungen zu treffen, ist ebenso verständlich wie das Bedürfnis nach Transparenz – gerade angesichts der Tatsache, dass die Mehrzahl der gesellschaftspolitisch zentralen Entscheidungen der letzten Jahre, von der "Ehe für alle" bis zum assistierten Suizid, nicht mehr vom Parlament, sondern vom Verfassungsgerichtshof getroffen wurde. (Ist eigentlich schon darüber nachgedacht worden, nicht nur Verfassungsrichter und -richterinnen, sondern auch Abgeordnete einzeln zu befragen, was die Gründe für dieses Phänomen sind?)

Beide Anliegen lassen sich jedoch mit etwas gutem Willen miteinander vereinen. Wenn es bei der "dissenting opinion" nicht darum gehen soll, dass sich einzelne Richter und Richterinnen persönlich profilieren können oder müssen, sondern wirklich nur um das Aufzeigen der Argumente pro und kontra – was spricht dagegen, die "dissenting opinion" ebenso anonym zu veröffentlichen wie die Ansicht der Richtermehrheit? (Thomas Olechowski, 27.3.2021)