Die Autorin Juli Zeh beackert in "Über Menschen" aktuelle Themen wie Corona, Rechtsradikale, Landflucht, die neue Arbeitswelt und Vorurteile.

Foto: Peter von Felbert

Das Landleben erfährt wegen Corona unter Städtern eine lang nicht dagewesene Popularität. So eine Städterin ist auch Dora, 4.000 verwilderte Quadratmeter mit einem kleinen Haus darauf hat sich die Werbetexterin allerdings schon davor im Umland von Berlin gekauft. Sie war der sinnlosen Projekte und wohlstandsgelangweilten Gespräche müde, zudem erschöpft von all den Meinungen zu Klimawandel und Rechtspopulismus. Erst als Corona ausbricht, zieht sie aber wirklich hin. Zwar kennt sie niemanden, aber selbstgezogenes Gemüse soll ihr Zufriedenheit geben. Seit zwei Wochen rodet die Mittdreißigerin ihr Grundstück.

Nachdem die Autorin Juli Zeh in Unter Leuten vor fünf Jahren eine Gemeinde im Umland von Berlin gegen Windräder und zugewanderte Bobos Sturm laufen und sich selbst zerfleischen ließ, spielt ihr neuer Roman Über Menschen wieder in Brandenburg. Juli Zeh kennt die Gegend, sie wohnt selbst seit einigen Jahren in der Prignitz. Im Vergleich zum Vorgängerbuch hat sich die Lage eher verdüstert: Von den 284 Bewohnern im strukturschwachen Ort Bracken wählen viele die AfD, einer ist sogar Nazi. Ausgerechnet dem gehört Doras Nachbarhaus.

Literatur mit viel Anspruch

Zeh fasst als studierte Juristin immer wieder gern heiße Eisen an, man denke nur an den Überwachungsstaat mit Gesundheitsfimmel in Corpus Delicti oder ihren Einsatz für Privatsphäre. Schon der Romantitel lässt einen diesmal bewusst schlucken und an Nazidiktion denken. Der Anspruch, Analyse der Lage Deutschlands zu sein, steckt dem Buch in jeder Zeile. Gelingt es?

Gut gemeint ist Über Menschen in jedem Fall, leider aber oft auch so plump. Das zeigt sich am stärksten an den Stellen, in denen Zeh die Pandemie mit noch heißer Nadel in den Text strickt. Da klingeln literarisch öde Gemeinplätze wie der Klopapierkaufrausch und lassen an Reiz-Reaktions-Schnellschuss-Literatur denken. Psychische Selbstanalysen wie "Dora mag keine absoluten Wahrheiten und keine Autoritäten, die sich darauf stützen" oder "Sie kann Regeln befolgen, sie will sie nur nicht gut finden müssen" suchen engagiert Debatten abzubilden, sagen aber weniger über Dora.

Starke Kontraste

Subtilität in der Figurenzeichnung ist also Zehs Stärke nicht, sie ist sendungsbewusst und arbeitet daher mit Holzschnitt und Kontrast.

Das macht den Roman didaktisch, andererseits aber auch heiter. Etwa nennt der Nachbar von Gegenüber Ausländer "Kanacken", meint es aber ja nicht böse und hilft Dora außerdem im Garten. Kann das ein ganz schlechter Kerl sein? Tom die Straße runter, der Blumensträuße ab Hof online verkauft, ist schwul, wählt aber trotzdem aus Mangel an Alternativen zu denen "da oben" die AfD. Natürlich ist in dieser Plotlogik auch der Nazinachbar "Gote" nicht nur böse, was Dora herausfindet, als er sie ungefragt mit selbstgebauten Möbeln versorgt. Dora wird ihm und seiner Tochter noch sehr nahekommen – es ist eben alles kompliziert.

So wird denn auch "Es geht nicht darum, Widersprüche aufzulösen, sondern sie auszuhalten" zum Leitsatz des Buches. Schätzte Dora, bis er es mit seiner Corona-Panik zu übertreiben begann, noch das Leben mit einem schmächtigen, ökobewussten Journalisten, so sehr gefällt es ihr, dass es hier Männer gibt, die einen heben können. Alleinerzieherin Sadie, die abends den Kindern das Essen hinstellt und zur Nachtschicht fährt, ringt ihr "Ehrfurcht" ab, ein "altmodisches Gefühl, das sie seit Langem nicht mehr hatte".

Würde für die andere Wirklichkeit

Zeh zeigt eine schlecht entlohnte, infrastrukturell benachteiligte und oft auch politisch vergessene Wirklichkeit und verleiht ihren Figuren Würde. Leider kann die Autorin es aber nicht bei durchweg flott und gut erzählten Szenen belassen. Wie um sicherzugehen, dass wir ihre hehren Anliegen auch wirklich verstehen, wartet hinter jeder Ecke ein Merksatz. "Vielleicht ist das Einnehmen von Haltungen nur so lange richtig und wichtig, wie man die Dinge aus sicherer Distanz betrachtet", stupst sie uns dann an. Hört!

Nicht nur weil überall Brombeerstauden wachsen, selbstgeschnitzte Skulpturen stehen und morgens die Luft "wie frisch gewaschen" ist, fühlt man sich in dem Buch trotzdem sehr wohl. Denn Über Menschen vermittelt in der Enge auch eine Geborgenheit. Jenseits von Filterblasen empfindet Dora das zufällige Gespräch mit Menschen anderer Meinung bald als Bereicherung, während ihr Werbejob in der Wirtschaftskrise wegbricht. Sie will sich nun in der Region engagieren. Die Unentrinnbarkeit wird zur Keimzelle für Toleranz. Das Schlagwort dazu lautet "Existenzgemeinschaft" und meint, am selben Ort zur selben Zeit lebend, sind wir aneinandergebunden, das gilt es auszuhalten. Bei Zeh profitieren davon am Ende alle. (Michael Wurmitzer, 29.3.2021)