Vertieft sich produktiv in Bruckners Werk: Christian Thielemann.

Matthias Creutziger

Gegenwärtig könnte der Eindruck entstehen, es gäbe hierzulande nur ein einziges Orchester, die Wiener Philharmoniker. Dazu würde sich zurzeit das Gefühl gesellen, es existiere auch nur noch ein Dirigent, also Christian Thielemann. Und dieser würde ausschließlich Symphonien von Anton Bruckner dirigieren.

Solch realitätsenge Ideen lässt das tiefgefrorene kulturelle Leben entstehen. Andererseits sind die Philharmoniker und Thielemann tatsächlich die Einzigen, die sich quasi live (fast ohne Publikum, aber immerhin auch digital und per ORF) präsentieren können. Sie treiben so ihr Projekt weiter, alle Symphonien Bruckners aufzunehmen.

Leicht pathetisch

In solch sonderbarer Zeit entstehen jedoch nicht nur spezielle Ideen, vielmehr auch unerwartete Sätze. Thielemann – an sich Chefdirigent der Staatskapelle Dresden, die nicht spielen darf – formuliert sie sogar leicht pathetisch: "Die Wiener Philharmoniker haben mich gerettet!", erklärt er im Vorfeld der Bruckner-Aufnahmen und dankt damit für die geschenkte Unterbrechung seiner Untätigkeit.

Ein weiterer interessanter Satz Thielemanns: "Bruckner hat nicht neun Symphonien geschrieben, sondern elf." Gemeint sind zum einen die sogenannte Studiensymphonie und die "Nullte". Beide hatte Bruckner aus dem Klub seiner ernst zu nehmenden Werke verbannt, nachdem Zeitgenossen an ihnen herumgemosert hatten. Etwas grell

Ein Hauch von Schumann

Was für negativ getestete Medienvertreter im Musikverein in Erinnerung gerufen wurde: Auch in der Eklektik des ersten Satzes der f-moll-Symphonie ist Originalität jederzeit lebendig. In der ausgelassen dahinrasenden Version der Philharmoniker sind Robert Schumann und Franz Schubert erkennbar stilistische "Gäste". Der zweite Satz der "Studiensymphonie" und der dritte sind jedoch eindeutig Bruckner, vielleicht nur ein etwas schüchterner als im Scherzo. Dort poltern noch nicht jene Blechbläsermassen, die in der "Nullten" – zwischen der Linearität der Streicher und dem lieblichen Trio – bereits voll zur Entfaltung kommen.

Beide, Thielemann und die Philharmoniker, haben diese Frühwerke noch nie umgesetzt. Das darf sich getrost ändern. Besonders die d-moll-Symphonie ("Nullte") verfügt über die Imposanz des späteren Bruckner. Der erste Satz suggeriert bereits jenen "Kathedralenbau", durch dessen Fenster frühlingshafter Melodiestrahl eindringt. Dieser Wechsel zwischen Monumentalität und Poesie, bei Bruckner formbildend, ist voll entwickelt.

Etwas grell

Und wenn es im vierten Satz in fugenartiger Entwicklung virtuos dahinrast, ist von komponierter Fingerübung nichts zu hören. Dass es am Sonntag punktuell etwas grell klang, ist wohl der Preis, der für Energetik zu zahlen ist. Besonders in einem fast leeren Musikverein. (Ljubiša Tošic, 29.3.2021)