Im Gastkommentar geht der Schriftsteller und Psychoanalytiker Sama Maani mit der Identitätspolitik hart ins Gericht. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Übersetzerin Karin Fleischanderl: "Zwischen Pathos und Kitsch".

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Amanda Gormans Inaugurationsgedicht für Präsident Joe Biden sorgte für Euphorie und eine Debatte darüber, wer es übersetzen darf. Heute erscheint "The Hill We Climb – Den Hügel hinauf" bei Hoffmann und Campe.
Foto: Reuters / Patrick Semansky

In Debatten wie in jener über die Frage, ob eine nichtschwarze niederländische Autorin befugt sein mag, das Inaugurationsgedicht der Afroamerikanerin Amanda Gorman ins Niederländische zu übertragen, begegnen wir, wie in anderen Kunstdebatten der letzten Jahre, immer wieder dem Begriff Identitätspolitik. Einem (Reiz-)Begriff, der regelmäßig Missverständnisse stiftet.

"Das Thema ist nicht das von Schutz."
Hannah Black in der Debatte um das Werk Open Casket.

Denn: Identitätspolitik ist nicht, wie es ein Gerücht will, ein anderer Name für den Kampf gegen die Unterdrückung marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen. Vertreterinnen und Vertretern von Identitätspolitik geht es, im Gegenteil, um den – narzisstischen – Gewinn, den die Unterdrückung "ihres" jeweiligen Kollektivs abwirft. So forderte die schwarze britische Künstlerin Hannah Black, Open Casket, ein Bild der nichtschwarzen Künstlerin Dana Schutz, inspiriert von der Fotografie der Leiche des 15-jährigen, 1955 von Weißen gelynchten schwarzen Jungen, Emett Till, zu zerstören. Denn: "The subject matter", so Black in einem offenen Brief 2017 an die Whitney-Biennale-Kuratoren, "is not Schutz’s." Das Thema sei nicht das von Schutz.

Hier geht es offenbar nicht um die Beseitigung von Ungerechtigkeit und Unterdrückung, sondern um den Gewinn, der sich aus der bloßen Thematisierung der Unterdrückung eines Kollektivs ergibt. Ein Thema, das Identitätspolitikerinnen und Identitätspolitiker vom Schlage Blacks eifersüchtig hüten wie einen Schatz. Die triviale Frage, woher Vertreterinnen und Vertreter der Identitätspolitik die Legitimation beziehen, für die Angehörigen "ihres" Kollektivs (in diesem Fall die Britin Hannah Black für Millionen Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner) zu sprechen, wird kaum je gestellt.

"Race reductionism"

Zu Ende gedacht, läuft Identitätspolitik, wie der afroamerikanische politische Theoretiker Adolph L. Reed eindrücklich gezeigt hat, auf die Festschreibung von Diskriminierung hinaus. Reed schreibt seit Jahrzehnten gegen den "race reductionism" und jene Identitätspolitik an, die Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner unter Ausblendung der Klassenfrage als homogene Masse darstellt. Und deren Nutznießer, wie er schon 1979 für den Zeitraum zwischen den späten 1960ern und dem Ende der 1970er-Jahre nachweisen konnte, schwarze Eliten waren – und heute noch sind. Während sich die soziale und ökonomische Lage unterprivilegierter Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner (Reed zieht die Parameter Beschäftigung, Kaufkraft, Wohnqualität und Lebenserwartung heran) im selben Zeitraum weiter verschlechterte.

Die aktuelle Debatte über Gormans Gedicht konzentriert sich auf die Frage, ob nichtschwarze Übersetzerinnen und Übersetzer, wie die Autorin Marieke Lucas Rijneveld, berechtigt und fähig sind, das Gedicht einer jungen Afroamerikanerin zu übersetzen. Was dabei unter den Tisch fällt: Jene, die Nichtschwarze für berechtigt und fähig halten, Gormans Gedicht zu übersetzen, sind sich offenbar mit ihren identitätspolitisch argumentierenden Gegnerinnen und Gegnern, die Nichtschwarzen diese Fähigkeit und dieses Recht absprechen, in einem Punkt einig: Beide Parteien sprechen implizit, und ohne es zu bemerken, Gorman das Recht und die Fähigkeit ab, Kunst zu produzieren.

Magischer Bereich

Wenn etwa die Sprecherin der österreichischen IG Übersetzerinnen Übersetzer Nathalie Rouanet-Herlt im STANDARD (siehe "Der Kontext macht die Poesie", 20. 3. 2021) in diesem Zusammenhang "die Fähigkeit von Leserinnen und Übersetzerinnen [begrüßt], in die Haut fiktiver und nonfiktiver Figuren zu schlüpfen", suggeriert sie, es ginge bei der Übertragung eines Gedichts darum, sich, einer empathischen Therapeutin gleich, in die Person des Klienten "einzufühlen". Zwar geht es in The Hill We Climb um persönliche Erfahrungen, die Gorman mit politischen Utopien verbindet. Sofern ihr Gedicht aber den Anspruch erheben und diesen erfüllen sollte, Kunst zu sein, ist es mehr als ein politisches Pamphlet oder das berührende Statement einer jungen Afroamerikanerin. Sollte Gormans Gedicht den formalen und inhaltlichen Kriterien der Kunst gerecht werden, gehört es, mit Theodor W. Adorno zu sprechen, jenem "magischen Bereich" an, der zwar "mit der empirischen Realität zusammenhängt und auf sie auch, kritisch oder utopisch, sich bezieht, aber nicht unmittelbar, soweit es ein ästhetisches ist, selbst als ein Stück der leibhaftigen Wirklichkeit erfahren" werden kann.

Falsche Frage

Und weil Kunst weder auf ein Protokoll persönlicher Befindlichkeiten noch auf eine soziologische Studie über die reale Situation eines unterdrückten Kollektivs reduzierbar ist, verfehlt die Frage, ob eine nichtschwarze Übersetzerin Gormans das Recht und die Fähigkeit besitzen mag, sich "in eine fremde Welt, eine fremde Perspektive einfühlen [zu] können", so Rouanet-Herlt, das Thema, um das es hier geht.

Während der identitätspolitische Diskurs nicht bloß (wie es Reed in Bezug auf Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner gezeigt hat) soziale Widersprüche innerhalb "identitärer Kollektive" ausblendet und Subjekte als eigenständige Individuen aus dem Diskurs eliminiert, indem er ihnen das Recht abspricht, auch noch etwas anderes sein zu dürfen als Angehörige eines Kollektivs, spricht der identitätspolitische Kunstdiskurs, wie am Beispiel Gormans gezeigt, Angehörigen jener Kollektive, die sie zu vertreten behauptet, das Recht und die Fähigkeit ab, Kunst zu produzieren. Kunst, die mehr ist als ein authentischer Erfahrungsbericht über Unterdrückung. Und die Anteil hat an jener "magischen Sphäre", die jede individuelle Authentizität transzendiert. Und über die unmittelbare Sphäre des Politischen (auf die sie sich kritisch oder utopisch beziehen mag) weit hinausgeht. (Sama Maani, 30.3.2021)