Ein Ausflug in die Berge als höchstes der Urlaubsgefühle? Seit einem Jahr ist verreisen schwierig.

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"Ich bin zu alt, um an irgendwelche Paradiese zu glauben", sagt Andreas Altmann.

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Foto: Andreas Altmann
Foto: Andreas Altmann

Andreas Altmann kennt die Welt. Als Reisereporter fährt er für die größten Magazine an die entlegensten Orte. Seit Corona ist auch für ihn vieles anders. Die letzte Reise? Führte Ende vergangenen Jahres nach Wien. Im Buch Gebrauchsanweisung für Heimat (€ 15,50, Piper) erzählt er aber von anderen Reisen und Erlebnissen. Etwa von einer Opiumsession in Hanoi, davon, wie er in Indien einen multimorbiden Straßenhund aus Mitleid überfuhr, oder von einem "Sapeur" im Kongo, der mit Eleganz Freude schenken will.

STANDARD: Sie sind Vielreisender, seit einem Jahr kann man nicht verreisen. Was fehlt Ihnen?

Altmann: Das glanzvollste Gefühl, das über einen kommen kann: am Leben zu sein. "Man needs variety", sagte Erich Fromm. Der Mensch braucht Abwechslung. Etwas, was ihn anstachelt, im Hirn, im Bauch. Um immerhin eine Ahnung vom Reichtum der Welt zu bekommen. Er soll nicht dösen, er soll wach sein, wissen wollen und teilnehmen.

STANDARD: Was tun Sie, um nicht zu veröden?

Altmann: Vor langer Zeit habe ich acht Monate in einem Zenkloster in Kioto gelebt, da lernt man, nicht alle drei Tage nach Mutti zu rufen. Das beste Mittel: mit Disziplin den Alltag strukturieren, den Körper schinden, lernen, lernen wollen, mit klugen Leuten kommunizieren, mit der Liebsten albern, sich auf Biegen und Brechen nicht gehenlassen.

STANDARD: Wann fühlen Sie sich in der Fremde wohl? Wann wird ein Ort für Sie zu "Heimat"?

Altmann: Was interessiert den Menschen mehr als der Mensch? Er ist das Aufregendste, was wir haben. Die Welt und Weltbewohner werden also zur Heimat, wenn sie Swing haben, Witz, Selbstironie, Empathie. Da docke ich an und verteile den Sticker "Heimat".

Andreas Altmann unterwegs in Nairobi.
Foto: Andreas Altmann

STANDARD: Man könnte meinen, Sie täten sich mit dem Begriff schwer. Einerseits, weil die Rechten ihn besetzen, andererseits weil Sie aus Ihrer Jugend im Wallfahrtsort Altötting im wahrsten Sinn des Wortes in die Welt entkommen sind: halb vom Vater fortgeprügelt, halb geflüchtet …

Altmann: Man kann mit jedem Wort auf Erden Schindluder treiben. Vielleicht ist "Liebe" das verhurteste von allen. Dennoch taugt es noch immer, um einen Zustand bedingungsloser Nähe zu beschreiben. Dito "Heimat", man kann es nehmen und die Welt anzünden, oder man trägt es als warmes Gefühl mit sich herum. Ohne das geringste Bedürfnis, bei den braunen Glatzen mitzugrölen.

STANDARD: Sie kiefeln aber auch an der westlichen Gesellschaft, beim Umgang mit Bettlern oder wegen ihres Drangs zum "Wohlbefinden". Haben Sie wo eine bessere gefunden?

Altmann: Nun, ich bin zu alt, um an irgendwelche Paradiese zu glauben. Wir Menschlein sind in allen Himmelsrichtungen in etwa dieselben: mit unserem Großmut und unserer Trägheit des Herzens. Ich bin auch zuweilen träge. Wie sagte es Brecht? "Das Schicksal des Menschen ist der Mensch." Aber von zwei Behauptungen lasse ich nicht ab: Deutschland stinkt vor Geld und ist somit verpflichtet, Frauen, Männer und Kinder aufzunehmen, die vor Tod und Teufel fliehen. Und: Wer aufgenommen wird, muss sich an die republikanischen Spielregeln halten, Heiliger Krieg, Scharia, Gottesstaat und ähnlicher Schwachsinn haben in Europa nichts verloren.

STANDARD: War Reisen früher spannender? Ist die globalisierte Welt zu tourismusoptimiert?

Altmann: Manche Landstriche sind heute unbetretbar, außer für Leute, die gern als Beute für Lösegeld oder als enthauptete Leiche bei religiös-fanatischen Menschenhassern landen. Andere sind unbetretbar, weil protziger Luxus die Laune verdirbt, der Terror des Wohlfühlens umgeht und jede Herausforderung verbietet. Noch gibt es aber Gegenden für all jene, die Schweiß und Stress brauchen, um sich zu spüren.

STANDARD: Wo sollten die hin?

Altmann: Sibirien! Ich liebe die fatalistischen Russen, die jammern und maßlos großzügig sind. Und mitten durch New Mexico, in der schönsten amerikanischen Wüste. Dort hausen die intelligentesten Freaks.

Andreas Altmann in Pakistan.
Foto: Andreas Altmann

STANDARD: Was muss in jeden Reiserucksack?

Altmann: Die Erkenntnis, wie skandalös kurz das Leben ist. Hat einer das begriffen, dann weiß er, was wichtig ist und was nicht.

STANDARD: Reist man alleine besser?

Altmann: Tausendmal ja, allein reisen ist erfüllender. Weil man ganz anders gefordert wird, schneller, viel direkter auf Situationen reagieren kann. Zwei – von Gruppen nicht zu reden – sind zwei, und dann muss man Rücksicht nehmen, muss nachfragen, Kompromisse schließen, auf manches verzichten. Da ich nur einmal lebe, sollten Verbotsschilder mich nicht interessieren. Zudem besteht die Gefahr, wenn man gemeinsam reist, dass man über hundert Dinge spricht, nur nicht über die Gegenwart, in der man sich befindet. Gewiss, allein reisen muss man aushalten, und zwischendurch anderen Neugierigen zu begegnen ist grandios. So erfährt man Unbekanntes, weiß hinterher mehr, sieht klarer. Doch dann heißt es, freundlich Abschied zu nehmen und sich begeistert "Auf Wiedersehen" zuzurufen.

STANDARD: Ihr schönstes Reiseerlebnis?

Altmann: Das weiß ich nicht, ich habe kein Ranking. Vieles hat mich zu Tränen gerührt, mir das Herz aufgeschnitten. Oder zu Veitstänzen der Freude verführt. "Das Schönste", ehrlich, interessiert mich nicht. "Das Innigste" soll gelten, das, was mich ein bisschen entwurzelt, was mich umhaut, was mich entschieden verunsichert. Das wäre eine Garantie dafür, dass ich wachse.

STANDARD: Erstes Ziel nach Corona?

Altmann: Ich weiß es nicht siegesgewiss, will dahin und dorthin. So fällt mir nur ein Spruch aus dem Zen-Buddhismus ein: "Kommst du an eine Weggabelung, beschreite sie." (Michael Wurmitzer, 31.3.2021)