Sliven (ganz links) kann seit einem Jahr die Schule nicht mehr besuchen, Silvana M. (Zweite von links) hat ihren Job als Putzfrau verloren, und Kevin M. (Dritter von links) "glaubt" nicht an das Virus.

Foto: Adelheid Wölfl

Es ist wie eine unsichtbare böse Kraft, die den Menschen die Jobs wegnimmt, den Kindern verbietet, in die Schule zu gehen, den Alten diesen bedrohlichen Husten beschert. Plastikflaschen, vermoderte Kleidungsstücke und verrostete Dosen zeigen den Weg den Hügel hinauf, Richtung Fakulteta, dem größten Roma-Viertel der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Zuweilen weht der Wind hauchdünne bunte Plastiksackerln in die Höhe. "Hier gibt es kein Corona", sagt Kevin M., ein 22-jähriger Ex-Fußballer mit einem Oberlippenbärtchen, der durch die ungepflasterten Straßen mit den tiefen Regenlacken zwischen den geduckten Häuschen führt.

In Fakulteta leben etwa 20.000 Roma. Als die Pandemie vor mehr als einem Jahr begann, hieß es in den Medien, dass die Roma sich an nichts halten und das Virus in der Stadt verbreiten würden. Unter dem Viertel auf dem Hügel wurden Straßensperren errichtet. Diese Abriegelung sollte die Bulgaren davor "schützen", dass das Virus sich in der Stadt verbreitet. Die Roma konnten tagelang nicht mehr in die Innenstadt – außer zur Apotheke. "Das war alles eine Lüge", meint Kevin. "Hier in Fakulteta war kein Zentrum der Pandemie." Auch in anderen Städten wurden rund um die Roma-Viertel Checkpoints errichtet, etwa in Nowa Sagora, Kasanlak, Sliwen und Jambol.

Angst vor dem Stigma

Die Mär, dass die gefährliche Lungenerkrankung von Fakulteta ausgehen würde, machte die Menschen im Viertel noch misstrauischer und ängstlicher. "Pscht", sagt Kevin M., wenn man ihn fragt, wer hier erkrankt sei. "Pscht, das ist ein Geheimnis. Die Leute hier befürchten sich, dass die Nachbarn sie meiden würden, wenn sie zugeben, das Virus zu haben."

Die Angst vor einer doppelten Stigmatisierung und davor, zum Sündenbock zu werden, ist groß. Die 38-jährige Silwana M. hat bereits vor Monaten ihren Job als Putzfrau bei H&M verloren. Früher hat sie 300 Lewa, umgerechnet 150 Euro, im Monat verdient. "Die Regierung hat uns bis jetzt keinen einzigen Lewa gegeben", erzählt die Frau mit den blondierten Haaren, die in der Frühlingssonne vor ihrem Haus steht.

Keine staatlichen Hilfen

Ihre beiden erwachsenen Kinder Kirčo und Sewda sind zurückgekehrt, weil sie ihre Jobs auf Zypern verloren haben. Viele Roma-Familien sind durch die Pandemie wieder größer geworden, weil Verwandte heimkehren mussten, gleichzeitig haben sie ihr Einkommen verloren. Deshalb verschulden sich nun viele. Radoslaw Stojanow vom Helsinki-Komitee für Menschenrechte in Sofia erzählt, dass nur jene Arbeitnehmer staatliche Hilfe oder einen Kredit bekommen, die offiziell wegen der Pandemie entlassen wurden. Viele Arbeitgeber suchten aber inoffizielle Wege, weil sie sonst selbst draufzahlen.

Denn die staatliche Kompensation liegt bei nur 60 Prozent. "Viele Roma arbeiten zudem in der Schattenwirtschaft, etwa der Gastronomie, die bekommen sowieso keine Unterstützung", so Stojanow zum STANDARD. In Fakulteta bleibt deshalb oft nur das familiäre Netz.

Doppelte Diskriminierung

Der 20-jährige Petar L., der mit seiner eineinhalbjährigen Tochter Stefanie auf einer Betonmauer sitzt, hat seinen Job am Bau verloren. Seine Mutter hilft ihm nun weiter. Er trägt als Einziger Maske und warnt als Einziger, dass das Virus "sehr gefährlich" sei. Denn seine Großmutter konnte eines Tages plötzlich nicht mehr atmen. "Wenn wir hier aber die Rettung rufen, dann braucht es oft lang", erzählt der blasse Mann von seinen Erfahrungen. "Nur die Polizei, die ist immer sofort da in Fakulteta."

Laut dem Helsinki-Komitee ist die Kommunikation zwischen dem Gesundheitspersonal und manchen Roma-Communitys sehr schlecht. "Die Rettungswagen kommen oft spät, die Leute bekommen keine anständige Behandlung, und die meisten Roma-Frauen, die zum Gebären ins Spital gehen, werden in gesonderte Zimmer gebracht. Sie liegen nicht mit den bulgarischen Frauen zusammen", erzählt er.

Die Roma in Bulgarien waren schon vorher diskriminiert, die sozialen Auswirkungen der Pandemie, besonders auf Bildung und Gesundheit, treffen sie zusätzlich. Der 13-jährige Sliwen etwa war seit einem Jahr überhaupt nicht mehr oben auf dem Hügel in der Schule. "Mir fehlt alles: die Freunde, die Lehrer, der Unterricht", erzählt er. Er hat zwar Homeschooling und ein Smartphone, doch es fällt ihm schwer, sich zu konzentrieren, wenn er von acht bis 14 Uhr auf den kleinen Bildschirm starrt. "Abgesehen davon bricht die Internetleitung hier in Fakulteta immer wieder zusammen", erzählt der Bub, der später gerne Polizist werden möchte. Computer gibt es in dem Viertel kaum.

Kein Raum zum Lernen

Die Kinder haben zudem wenig Raum, um in Ruhe zu lernen. Bulgaren verfügen durchschnittlich über 23 Quadratmeter Wohnfläche pro Person, bei den Roma sind es elf. 50 Prozent der Schüler in Sonderschulen gehören der Minderheit an.

60 Prozent der Roma-Kinder werden laut einer Umfrage der EU-Agentur für Grundrechte in sogenannten "Roma-Schulen" unterrichtet. Sobald Roma in eine andere Schule aufgenommen werden, nehmen bulgarische Eltern ihre Kinder oft von der Bildungseinrichtung. Das Phänomen wird in Bulgarien "weiße Flucht" genannt. Doch in Osteuropa gibt es keine "Roma Lives Matter"-Bewegung gegen die Diskriminierung.

Fehlende Aufklärung über das Virus

In Fakulteta werden die Kinder zurzeit durch schlechte Internetverbindungen im Online-Unterricht und durch die fehlenden Computer noch mehr abgehängt, als sie es ohnedies schon waren. Fast die Hälfte der von Roma bewohnten Häuser in dem Balkanstaat verfügt über keinen Kanalanschluss. Der Prozentsatz der Polizeigewalt gegen Roma ist höher als im Durchschnitt, immer wieder werden Hütten von Roma abgerissen. Selbst während der Pandemie geschieht das, die Menschen landen auf der Straße.

Viele Roma haben sich aufgrund der Pandemie noch mehr in eine Parallelwelt zurückgezogen. Impfen lassen möchte sich in Fakulteta niemand. Die meisten haben Angst vor den Impfstoffen. Es fehlen das Vertrauen ins Gesundheitssystem und Aufklärung über das Virus. Die evangelikalen Freikirchen boomen indes. Kevin hat auf Facebook ein Foto gepostet, auf dem Christus umgeben von Kindern mit verschiedensten Hautfarben zu sehen ist. "Wir glauben hier nicht an Corona", meint er. "Wir glauben an Jesus." (Adelheid Wölfl, 31.3.2021)