Übersetzerin und Publizistin Karin Fleischanderl geht in ihrem Gastbeitrag auf den Streit um die deutsche Fassung des Gedichts der US-Amerikanerin Amanda Gorman ein, erklärt, worauf es bei Übersetzungen ankommt, und was es bei diesem Text zu beachten gibt. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Schriftsteller Sama Maani: "Die Entkunstung eines Gedichts".

Um in der nicht enden wollenden Amanda-Gorman-Debatte den Überblick zu bewahren, sollte man ein wenig weiter ausholen:

Erstens: Was genau passiert beim Übersetzen? Übersetzen ist nicht immer nur die möglichst genaue und gelungene Wiedergabe von semantischen und syntaktischen Strukturen, sondern mitunter auch das Herauslösen von Inhalten und Formen aus dem ursprünglichen Kontext und deren Wiedergabe in einem Zusammenhang, in dem sie unverständlich, fremd und fehl am Platz wirken, wenn nicht gar ihre Bedeutung verändern.

Um die deutsche Übersetzung eines Gedichts der US-Amerikanerin Amanda Gorman ist ein wilder Streit entbrannt: Wer darf und soll übersetzen, wer besser nicht?
Foto: EPA / Tasos Katopodis

Die europäischen Sprachen sind zum Großteil kompatibel, doch je weiter man sich in Raum und Zeit entfernt, desto eher stößt man an seine übersetzerischen Grenzen. Ein Beispiel: Ein japanischer Kollege sagte einmal zu mir: "Darf ich dir meine dumme Frau vorstellen?" Fürs Erste war ich geschockt, doch dann bestätigte sich meine Vermutung. Bei dieser Floskel handelt es sich um eine in Japan gängige Form des Understatements.

Zauber des Fremden

Wie jedoch dieses kleine Sätzchen, das weder syntaktisch noch semantisch eine Hürde darstellt, übersetzen? Ein unlösbares Dilemma. Entweder wortwörtlich, wie ja bereits geschehen: Da lasse ich den Hörer oder Leser jedoch mit der Frage allein, ob es sich dabei um eine kulturell sanktionierte Floskel oder um eine herabwürdigende Äußerung eines individuellen Sprechers handelt. Oder ich deutsche ein, lasse das "dumme" weg, was durchaus gerechtfertigt wäre (weil die Floskel in Japan offenbar so konventionell ist, dass niemand aufhorcht), und vernichte damit den Zauber des Fremden. Oder, dritte – ungeliebte – Lösung: Ich führe alle diese Überlegungen in einer Fußnote an.

Und zweitens: Um was für einen Text genau handelt es sich bei Gormans angeblichem Gedicht? Seinerzeit am Dolmetschinstitut unterschieden wir behelfsmäßig drei verschiedene Textsorten, die eine jeweils andere Herangehensweise erforderten: Texte mit inhaltlichem Schwerpunkt (technische Übersetzungen), Texte mit formalem Schwerpunkt (literarische Übersetzungen) und kommunikative Texte (politische Reden, Pamphlete, aber auch Werbung), die beim Leser oder Hörer eine möglichst direkte Reaktion, vielleicht auch Aktion auslösen sollen: Rührung, Unmut, Kauflust ... Wahrscheinlich überflüssig festzustellen, dass die dritte Textsorte die am schwierigsten zu übersetzende ist, weil sie in einem ganz speziellen Jargon zu einer ganz speziellen Gruppe spricht, die es im Kontext der Zielsprache möglicherweise gar nicht gibt.

Lichtvolle Zukunft

Gelegentliche Reime und Spoken-Word-Rhythmus können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gormans Text vorwiegend Elemente der kommunikativen Textsorte aufweist. The Hill We Climb erinnert weniger an die Tradition der US-amerikanischen Lyrik als an die der großen Reden der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, etwa Martin Luther Kings I Have a Dream: eine Fülle von biblischen Zitaten, starke Bildhaftigkeit ("in the belly oft the beast"), eine schlichte und deshalb umso wirksamere Hell-dunkel-Rhetorik. "Der Tagesanbruch nach der langen Nacht der Gefangenschaft", heißt es bei Luther King, auch bei Gorman ist davon die Rede, dass die US-Amerikaner nach den überwundenen Gefahren nun einer lichtvollen Zukunft entgegengehen.

Beim Übersetzen wird Gormans Text mehrmals aus dem Kontext gerissen, in dem er legitim und gelungen erscheint. Bereits in seiner schriftlichen (originalen) Form, ohne die Emphase und das Charisma des Vortrags, die den Zuhörern Tränen in die Augen treiben, und an den Kriterien der Literatur gemessen, wirkt er etwas "poor". Die Metaphern der Baptistenprediger mögen großartige Rhetorik sein, sind aber keine Lyrik. Auch Luther Kings Rede ist keine Literatur. Warum muss Gormans Rede unbedingt Literatur sein?

Banal und abgelutscht

In europäischen Ohren klingt derartiges Sonnenaufgangspathos wie Kitsch, kommunistischer Kitsch. Banal und abgelutscht. Selbst der Sprechakt ist in Europa unvorstellbar: Eine junge Frau stellt sich vor einen Leader – Emmanuel Macron, Boris Johnson oder gar Angela Merkel? – hin und beschwört im Namen eines nicht näher definierten "wir" und in blumigen Worten Nation und Nationalstolz.

Da haben wir es mit einem Haufen "dummer Frauen" zu tun, die wir am liebsten unter den Tisch fallen lassen würden! Doch was bleibt dann über? Insofern verstehe ich den Ansatz der Identitätspolitik: Diese sprachliche und mentale Haltung kann nicht übersetzt, sie kann nur von einer vergleichbaren Person in einer vergleichbaren Situation und vor einem gleich gestimmten Publikum "nachgedichtet" oder "nachgesprochen" werden.

Oder man überlegt sich, anders als in der bereits erfolgten, missglückten deutschen Übersetzung, die mühsam Bild um Bild, Metapher um Metapher zusammenklittert, eine valide Strategie, wie die kommunikative Wirkung des Originals in der jeweiligen Zielsprache (auch in Abwesenheit einer entsprechenden Zielgruppe und des dazugehörigen Jargons) erhalten werden kann. (Karin Fleischanderl, 1.4.2021)