Ein Hochverschuldeter soll sich bei seiner Nachbarin immer wieder Geld geborgt, es aber nie zurückgezahlt haben. Als sie ihm die Freundschaft kündigte, wollte er unbedingt ein klärendes Gespräch.

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Wien – Angeklagter H. tritt als distinguierter Gentleman vor Richterin Andrea Philipp-Stürzer: Tweed-Sakko, gewählte Ausdrucksweise, stellt sich als "Künstler und Wissenschafter" vor. Reich wird man von diesen Berufen offenbar nicht, deshalb ist der 67-Jährige auch vor Gericht. Er soll laut Anklage im Vorjahr eine Nachbarin um 3.500 Euro betrogen und sie monatelang gestalkt haben, als sie das Geld zurückforderte.

H., schwedisch-US-amerikanischer Doppelstaatsbürger, hat nach eigenen Angaben mit 15 Jahren sein Studium an der Universität Cambridge begonnen und hält Doktortitel in Philosophie und Psychologie. Er stammt aus gutem Haus und könnte an sich auf eine beträchtliche Erbschaft zurückgreifen, sagt er der Richterin. Allein: Er habe das Erbe seines Vaters bisher nicht angetreten, da er in den USA Steuerprobleme habe.

Vier einschlägige Verurteilungen

"Gut, das Geld haben Sie noch nicht. Wie bestreiten Sie Ihren Lebensunterhalt?", will Philipp-Stürzer von H. wissen. "Mit Mühe", lautet die Antwort. Weder er noch seine Gattin haben ein geregeltes Einkommen, dafür laufen Exekutionen gegen den Angeklagten. 33.000 Euro schuldet er zum Beispiel an Miete, die er von Mai 2018 bis November 2020 nicht bezahlt hat. Weitere 60.000 Euro schuldet er einer Frau – 2014 wurde H. wegen gewerbsmäßigen schweren Betrugs verurteilt, da er der Frau die Summe in 39 Tranchen herausgelockt hat. Zwei weitere einschlägige Verurteilungen in Österreich und eine in Deutschland hat der Angeklagte auch noch vorzuweisen.

Dass auch eine Delogierungsklage gegen ihn läuft, beunruhigt den 67-Jährigen nicht. Denn das Haus an einer noblen Adresse in Wien-Wieden gehöre ohnehin einem Freund von ihm. Der ist eine prominente Persönlichkeit, die von H. abwechselnd "Fürst" und "Erbprinz" genannt wird – als ausländischer Staatsbürger muss man nicht zwangsläufig über das Adelsaufhebungsgesetz aus dem Jahr 1919 Bescheid wissen.

Blaublütige Bekanntschaft

Diesen blaublütigen Bekannten brachte er ab Mai 2020 auch gegenüber Frau H., einer 39 Jahre alten Nachbarin, ins Spiel. Der Angeklagte hatte sie beim Gassigehen kennengelernt, man freundete sich an, er erzählte ihr von seinen Steuer- und Geldproblemen und bat sie um finanzielle Unterstützung. Er bekam 600 Euro, die er zwei Wochen später auch zurückzahlte. Dann borgte er sich aber weitere vier Mal Geld aus und verwies immer auf die bevorstehende Erbschaft und seine Bekanntschaft mit dem "Fürsten", der im Bedarfsfall für ihn geradestehen würde. 3.300 Euro Bargeld und zwei Säcke Hundefutter im Wert von je 100 Euro wechselten die Besitzer. Der Angeklagte sagt, die Nachbarin habe ihm das Geld fast immer unaufgefordert und ohne Zahlungsfrist übergeben.

Frau H., von Beruf Bankmanagerin und nach Eigendarstellung "in Banking knallhart", wollte zunächst nicht auf Rückzahlung drängen, da sie den kultivierten Angeklagten "recht nett" fand und sie Gespräche und Kulturbesuche mit ihm als "sehr bereichernd" empfand. Der ältere Mann vertröstete sie immer – die Probleme in den USA seien komplizierter als gedacht, "der Erbprinz auf Jagd in Ungarn und nicht erreichbar".

"Entwürdigende und entmenschlichende Situation"

Ende August wurde es ihr zu blöd, und sie forderte die Begleichung der Schulden ein, gleichzeitig kündigte sie ihm per SMS die Freundschaft. Was beim Angeklagten, wie er selbst zugibt, auf völliges Unverständnis traf. "Man kann nicht einfach sagen, ich will keinen Kontakt mehr. Wir leben in einer kultivierten Welt", beschwert er sich bei der Richterin. Er habe es als "entwürdigende und entmenschlichende Situation" empfunden und wollte unbedingt ein klärendes Gespräch.

Daher habe er viermal Briefe im Postkasten der Nachbarin deponiert und versucht, sie per Mail und SMS zu erreichen. Zunächst reagierte Frau H. noch und schlug dem Angeklagten vor, der solle das Geld ihrem Mitbewohner geben. Herr H. beharrte auf einer persönlichen Übergabe. "Ich sehe keine moralische Abwertung in dem Wunsch, Schulden persönlich zu begleichen", erklärt er Philipp-Stürzer zu diesem Thema.

"Ich machte mir Sorgen um ihr Seelenheil"

Außerdem habe er sich Sorgen um die psychische Gesundheit der Nachbarin gemacht. "Ich möchte ihr Freund sein, ich möchte ihr helfen. Ich mache mir Sorgen um ihr Seelenheil", erklärt er. Die Hilfe war unerwünscht: Frau H. kontaktierte ihren Anwalt, der den Angeklagten aufforderte, keinen Kontakt zu suchen. Im Jänner zeigte die 39-Jährige ihren Nachbarn schließlich wegen Betrugs und Stalkings an. Was Herrn H. auch heute noch den Kopf schütteln lässt: "In meinem Stand ist es so, dass man Freunde nicht verklagt", belehrt er die Richterin.

Die geschuldete Summe hat er in einem Kuvert dabei, er will es Frau H. persönlich übergeben. Die das bei ihrem Zeuginnenauftritt ablehnt. "Geben Sie es meinem Anwalt", bescheidet sie kühl. Ihr Auftritt gerät ungewöhnlich emotional, die Zeugin erzählt ausschweifend und fühlt sich auch von Richterin und Verteidiger immer wieder angegriffen. Die versuchen nämlich genauer herauszuarbeiten, worin das Stalking genau bestanden habe. Wie sich herausstellt, geht es um vier oder fünf Briefe in fünf Monaten, sieben Begegnungen im Haus oder Garten und einige Mails und SMS.

Richterin goutiert Fragen nicht

Frau H. betont aber, dass sie das so gestört habe, dass sie im Herbst eineinhalb Tage ihre Wohnung nicht mehr verlassen habe und im Jänner sogar nach München gezogen sei, wo sie einen neuen Job gefunden hatte. Es komme vor allem auf den Inhalt der Nachrichten des Angeklagten an, erklärt die Zeugin. Auf etwas unglückliche Weise: "In einem Brief steht 'Ecce Homo'. Wissen Sie, was das bedeutet?", fragt sie beispielsweise die Richterin. "Ich stelle hier die Fragen", entgegnet Philipp-Stürzer.

Die Zeugin bedauert auch, dem Angeklagten private Dinge erzählt zu haben – nur um zehn Minuten später bei der eher unmotivierten Feststellung, eine Freundin von ihr sei gestorben, in Tränen auszubrechen.

Angeklagter H. hält in seinem Schlusswort fest: "EIN Gespräch hätte gereicht. Es war für mich kein Abschluss der Freundschaft." Dass Frau H. unter den Kontaktversuchen offenbar gelitten habe, tue ihm leid, Stalking sei es aber nicht gewesen.

Weder objektive noch subjektive Tatseite erfüllt

Richterin Philipp-Stürzer sieht das auch so und spricht H. vom Stalkingvorwurf frei. Der Tatbestand der beharrlichen Verfolgung sei schon von der objektiven Tatseite nicht erfüllt worden, die Intensität der Kontaktversuche viel zu gering gewesen. Auch subjektiv sieht sie beim Angeklagten keinen bedingten Vorsatz – er habe zwar "auf aufdringliche und unangenehme Weise den Kontakt gesucht", aber nicht in einer Vehemenz, dass er der Nachbarin das Leben zur Hölle gemacht habe. Die 39-Jährige wird mit ihrem Privatbeteiligtenanschluss von 1.000 Euro daher auf den Zivilrechtsweg verwiesen.

Den Betrug sieht die Richterin dagegen als erfüllt an und verurteilt H. dafür rechtskräftig zu zweieinhalb Monaten unbedingter Haft. "Das äußerst einschlägige Vorleben" lasse keine bedingte Strafe zu. Die Hoffnung auf eine Erbschaft lässt Philipp-Stürzer auch nicht gelten: H. habe gewusst, dass er ohnehin über 90.000 Euro Schulden habe und schon zweieinhalb Jahre keine Miete zahlte. "Wenn ich so ein Leben führe, kann ich mir kein Geld ausborgen", stellt sie klar. (Michael Möseneder, 31.3.2021)