Nicht alle guten Dinge kommen von oben, manche kommen auch von hinten. Lil Nas X weiß Bescheid.

Foto: Sony Music

Dem völlig unbekannten, 19-jährigen Montero Lamar Hill aus Georgia gelang 2018 ein Coup. Sein Song Old Town Road, eine eingängige, originelle Nummer zwischen Trap und Country, erreichte auf der App Tiktok dermaßen große Popularität, dass Radiostationen das Phänomen nicht länger ignorieren konnten. Wollten sie den Song von diesem Typen, der sich Lil Nas X nannte, spielen, mussten sie sich das Video von Youtube runterladen, um an die Audiospur zu kommen. Lil Nas X hatte noch nicht einmal ein Label. Aber er hatte eine Ahnung davon, wie man heute Musik veröffentlicht.

Vom Kindergeburtstag in die Hölle

Auf Tiktok kreierte er Memes, die von anderen Usern aufgegriffen wurden. Die sogenannte Yeehaw-Challenge war geboren, bei der Teenies im Cowboy-Aufzug zu dem kindergeburtstagkompatiblen Song so tun, als würden sie Pferdchenreiten. So diente sich die Nummer in den Billboard-Charts hoch, wo sie 19 Wochen den ersten Platz belegte. Als absoluter Newcomer war Lil Nas X bei den Grammys 2020 sechs Mal nominiert, zwei Preise nahm er mit nach Hause.

Retrospektiv betrachtet, hat sich die Zeile "I'm gonna ride, 'til I can't no more" wohl nie auf ein Pferd bezogen.
Best TikTok Compilations

Während er die Spitze der Charts anführte, bekannte sich Hill öffentlich zu seiner Homosexualität, immer noch eine Seltenheit im Bereich des Mainstream-Hip-Hop.

Drei Jahre später ist Hill nun nicht mehr der liebe Bub mit dem Glitzerhut. In seinem aktuellen Video Montero (Call Me By Your Name), das seinen Vornamen trägt, um zu signalisieren, dass er jetzt ganz er selbst ist, begibt er sich via Poledance-Stange auf Höllenfahrt und gibt dem Teufel einen saftigen Lapdance. Montero huldigt nicht nur der queeren Ballroom-Culture, sondern ist eine wohlkalkulierte Provokation. In Video, Song und Künstlerfigur finden eine Vielzahl von Pop-Topoi zusammen, die Konservative verlässlich auf die Palme bringen:

Man nehme einen "Kinderstar", der seine Sexualität zelebriert, der schwarz und schwul ist und – aufregertechnisch in den USA die Königsklasse – sexuelle Sympathien für den Teufel hegt. Die Verse im Song Montero, dessen Untertitel Call Me By Your Name sich auf Luca Guadagninos gleichnamigen Film über das Entdecken der eigenen Homosexualität bezieht, sind zwar nicht satanisch, aber zumindest explizit: Es geht unter anderem um Koks und Oralsex. Jeder dieser einzelnen Punkte hätte für ein Skandälchen gesorgt, im Paket war der Shitstorm von "besorgten Eltern" vorprogrammiert.

Höllenfahrt an der Stange.
LilNasXVEVO

Doch damit nicht genug. In Zusammenarbeit mit einem Kunstkollektiv ließ Lil Nas X 666 Paare eines Sportschuhs produzieren, der nicht nur einen Tropfen menschlichen Bluts in der Sohle enthalten soll, sondern den auch eine umgedrehte Version des Nike-Logos, des Swoosh genannten Hakens, ziert. Das ist wohl als ein Kommentar darauf zu lesen, dass Sneakers für eine junge Generation quasi als Religionsersatz gelten. Der umgedrehte Swoosh ist also bedeutungsgleich mit einem umgedrehten Kreuz. Nike klagte – der "Satan-Schuh" habe der Marke bereits erhebliche finanzielle Schäden zugefügt, weil sie nun mit menschlichem Blut und dem Teufel assoziiert würde. This is America.

Rucke di guh, Blut ist im Schuh

Montero ist aber nicht nur Provokation um der Provokation willen. Ein Twitter-User fasst es gut zusammen, wenn er sinngemäß ironisch schreibt: "Kein Wunder, dass sich die queeren Kids dem Teufel zuwenden, wenn die Kirche sie nicht haben will." Das Video aus der Hölle ist genau zum "richtigen" Zeitpunkt auf Erden gelandet, kurz nachdem der Vatikan Segnungen homosexueller Paare eine Absage erteilte – und gewinnt damit tagesaktuelle Brisanz. Auch der Blutstropfen im Schuh weckt Assoziationen damit, dass in vielen Ländern Männer, die mit Männern schlafen, nicht – oder nur unter strengsten Auflagen – Blut spenden dürfen. Und natürlich geht es um ein ganz offensichtliches Aufzeigen von Heuchelei, die Lil Nas X in Form seines Videos betreibt: dass Homosexualität nur dann als okay empfunden wird, wenn sie harmlos und in Regenbogenfarben daherkommt.

Nun fährt Montero Lamar Hill nicht nur tatsächlich dem Teufel, sondern sprichwörtlich auch den besorgten Eltern mit dem "Oasch ins Gsicht". Er sei nicht für die Erziehung des Nachwuchses verantwortlich, schreibt er auf Twitter und fügt süffisant hinzu: "Ich dachte, ihr mögt keine politische Korrektheit, was ist denn jetzt los?" Wir lernen: Ein Vorbild für die Jugend mag verloren sein, eine Ikone der queeren Community ist geboren. Das Montero-Video erreichte innerhalb von fünf Tagen über 50 Millionen Klicks. (Amira Ben Saoud, 1.4.2021)