Die Liste der medizinischen Risiken der Raumfahrt ist lang – und erhält nun einen weiteren Vermerk: Wie eine neue Studie zeigt, kann ein längerer Aufenthalt in der Schwerelosigkeit das Herz deutlich schrumpfen lassen, auch wenn ein rigoroses Trainingsprogramm absolviert wird und der betreffende Astronaut keine physische Beeinträchtigung bemerkt. Für Langzeitmissionen oder gar Raumflüge zu fernen Destinationen könnte das zum Problem werden.

Die Studie, die im Fachblatt "Circulation" veröffentlicht wurde, ist das jüngste Ergebnis einer bisher einzigartigen Zwillingsstudie der US-Weltraumbehörde Nasa. Der Astronaut Scott Kelly verbrachte von März 2015 bis März 2016 insgesamt 340 Tage durchgängig auf der Internationalen Raumstation (ISS), während sein eineiiger Zwillingsbruder Mark Kelly, ebenfalls Astronaut (und heute Politiker), auf der Erde blieb. Der Vergleich ihrer physiologischen Daten brachte eine Vielzahl von Veränderungen ans Licht, die nur bei Scott im Weltraum aufgetreten waren und zum Teil auch nach seiner Rückkehr zur Erde fortbestanden.

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Getrennte Zwillinge: Scott Kelly (links) verbrachte fast ein Jahr auf der ISS, während sein Bruder Mark auf der Erde blieb.
Foto: AP/Pat Sullivan

Überlebenstraining im All

Viele Folgen der Schwerelosigkeit im All für den menschlichen Körper sind gut erforscht. Befindet sich ein Mensch in totaler oder annähernder Schwerelosigkeit (Mikrogravitation), beginnt der Körper unmittelbar mit Anpassungsreaktionen. Binnen Minuten kommt es zu einer Verlagerung der Körperflüssigkeiten in die obere Körperhälfte. Die Halsvenen und das Gesicht schwellen an, der Körper versucht, den vermeintlichen Überschuss an Flüssigkeit durch verstärkte Ausscheidung auszugleichen. In der Folge schrumpft das Blutvolumen.

Durch die fehlende Belastung kommt es auf längere Sicht zum Abbau von Muskelmasse und Knochen, Koordinationsprobleme und Sehstörungen treten auf, das Herz-Kreislauf-System bildet sich zurück, und das Immunsystem wird schwächer. Um diesen schädlichen Effekten bestmöglich entgegenzuwirken, müssen Raumfahrer ein tägliches Ausdauer- und Krafttraining absolvieren.

Kelly absolvierte während seiner Mission ein strenges Trainingsprogramm.
Foto: Nasa

0,74 Gramm pro Woche

Das tat natürlich auch Scott Kelly. Der heute 57-Jährige trainierte während seiner ISS-Mission sechs Tage die Woche jeweils ein bis zwei Stunden. Dabei standen sowohl Ausdauertraining auf dem Laufband oder Fahrradergometer als auch Krafttraining am Programm. Und doch verlor sein Herz im Lauf des Jahres kontinuierlich an Masse, wie die Wissenschafter um Benjamin Levine vom University of Texas Southwestern Medical Center berichten. Die Masse von Kellys linker Herzkammer nahm durchschnittlich um 0,74 Gramm pro Woche ab. Der Durchmesser der linken Herzkammer, die die Hauptpumpfunktion des Herzens innehat, verringerte sich um insgesamt von 5,3 auf 4,6 Zentimeter.

Überraschend kommt der Abbau von Herzmuskelmasse im All nicht, das genaue Ausmaß sei aber für die Weltraummedizin von großem Interesse, sagte Levine: "Das Herz reagiert besonders stark auf die Schwerkraft oder ihre Abwesenheit." Die Aufgabe des Organs ist es schließlich, die Blutzirkulation im Körper zu gewährleisten – und in der Mikrogravitation ist der Pumpaufwand deutlich verringert. In der Folge bildet sich das Herz-Kreislauf-System zurück.

Vier Raumflüge und insgesamt 520 Tage hat Scott Kelly hinter sich. Das Foto zeigt ihn bei einem Außenbordeinsatz im November 2015.
Foto: Imago/Nasa

Der Rückgang der Herzmuskelmasse habe Kelly keine Probleme bereitet, sagte Levine. "Sein Herz schrumpfte, aber es hat sich angepasst, es traten keine Funktionsstörungen auf und er blieb einigermaßen fit." Kellys 340-tägige Mission war der bisher fünftlängste durchgängige Aufenthalt eines Menschen im All. Den Rekord hält Waleri Poljakow, der in den 1990er-Jahren 437 Tage im Weltraum verbrachte.

Vergleich mit Schwimmerherz

Bei langen Raumflügen ohne schnelle Rückkehrmöglichkeit zur Erde, etwa bei künftigen Missionen zum Mars, könnte es zu Problemen kommen: Rigoroses Training müsste die gesamte Zeit über aufrecht erhalten werden – doch was, wenn sich ein Astronaut verletzt oder erkrankt und nicht trainieren kann? Oder wenn die speziell für das Training in der Schwerelosigkeit konzipierten Geräte kaputt gehen? Die Dekonditionierung könnte längerfristig zu erheblichen Problemen führen, sagte Levine. Wie viel Training in welcher Intensität nötig wäre, um die Herzmuskelmasse zu erhalten, sei aber noch unklar.

Für ihre aktuelle Studie verglichen Levine und Kollegen die Herz-Daten des Astronauten mit denen des französischen Langstreckenschwimmers Benoît Lecomte. Der Auftrieb des Wassers hat über längere Zeit viele vergleichbare Auswirkungen auf den Körper wie Schwerelosigkeit, beim Schwimmen ist man jedoch dauernd in Bewegung. Ein Rekordversuch des Extremsportlers von 2018 erschien den Wissenschaftern daher besonders interessant: Lecomte hatte damals versucht, von Japan bis nach Kalifornien durch den Pazifik zu schwimmen. Er musste seinen Plan zwar nach einem Drittel der Strecke aufgeben, doch insgesamt schwamm er 159 Tage lang durchschnittlich sechs Stunden täglich.

Extremschwimmer Lecomte am Beginn seiner versuchten Pazifikdurchquerung im Juni 2018.
Foto: APA/AFP/MARTIN BUREAU

Die Analyse seiner physiologischen Daten ergab zur Überraschung der Forscher, dass auch sein Herz an Masse verloren hatte – und zwar in einem vergleichbaren Ausmaß wie das von Kelly: Seine linke Herzkammer verlor 0,72 Gramm Masse pro Woche. Das Ergebnis habe ihn schockiert, sagte Levine zur "New York Times". Er sei eigentlich davon ausgegangen, dass Lecomtes Herz durch den langen und regelmäßigen Ausdauersport in niedriger Intensität an Masse zugelegt hätte. Es brauche jedenfalls weitere Forschung, um Trainingsprogramme für Langzeitastronauten weiter zu optimieren.

Zahlreiche Veränderungen

Neben Problemen mit dem Herz-Kreislauf-System gibt es freilich eine Vielzahl weiterer gesundheitlicher Risiken bei langen Raumflügen. Auch dafür lieferte die Nasa-Zwillingsstudie der Kelly-Brüder Daten: So zeigte sich, dass sich etwa die Genaktivität bei Scott Kelly signifikant anders entwickelte als bei seinem Bruder und es vermehrt zu Schäden im Erbgut der Zellen kam. Auch sein Immunsystem, die mikrobielle Zusammensetzung im Darm und die Netzhaut seiner Augen änderten sich, während seine geistige Leistungsfähigkeit in einigen Bereichen abnahm.

Scott Kelly wenige Minuten nach seiner Rückkehr zur Erde im März 2016.
Foto: APA/AFP/NASA/BILL INGALLS

In seinem 2018 erschienenen Buch "Endurance. Mein Jahr im Weltall" schreibt Kelly, er habe sich nach seiner Rückkehr zur Erde wie ein alter Mann gefühlt, mit Schmerzen in den angeschwollenen Beinen, Übelkeit und brennender Haut. Würde er dennoch wieder ins All fliegen? "Wenn man mich lässt, jederzeit." (David Rennert, 5.4.2021)