Die Entsorgung eines Kinderfahrrades aus dem Hof einer Wohnunganlage führt zu einem Gerichtsverfahren wegen schwerer Körperverletzung.

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Wien – Ein auf einem Gehweg liegendes Kinderfahrrad in einem Gemeindebauhof in Wien-Floridsdorf hat Ibragim K. vor Richterin Magdalena Klestil-Krausam gebracht. Also indirekt. Denn er soll einen Nachbarn verprügelt haben, nachdem der das Fortbewegungsgerät aus Wut in einen Müllcontainer schmiss. Was der unbescholtene 32-jährige Angeklagte bestreitet.

Der Nachbar heißt Olaf K. und ist offensichtlich kein besonderer Kinderfreund. Der 53-jährige Deutsche reagiert unfroh auf Lärm und Unordnung, das habe schon in der Vergangenheit immer wieder zu Problemen geführt, sagt der Angeklagte. Olaf K. selbst formuliert es als Zeuge so: "Ich habe den Kindern immer wieder gesagt, sie möchten ein wenig ruhiger und ein wenig ordentlicher sein." Die Kinder aus dem Wohnhaus, zumindest jene des Angeklagten, hatten für Olaf K. möglicherweise deshalb einen Spitznamen: Sie nannten ihn "Zombie".

Überraschung nach Zahnarztbesuch

Der von Florian Kreiner vertretene Angeklagte K. bekennt sich nicht schuldig und schildert seine Sicht der Dinge. "Ich bin vom Zahnarzt heimgekommen, und meine Kinder haben mir gesagt, dass der 'Zombie' ihr Fahrrad in den Müllcontainer geworfen hat", lässt der Tschetschene übersetzen. Der Frau des Angeklagten habe Olaf K. danach angeblich barsch beschieden, die Familie "solle nach Hause zurückkehren" – also nach Russland, nicht in die Gemeindebauwohnung, in der das Ehepaar mit seinen vier Kindern lebt.

Angeklagter K. sagt, er wollte ein klärendes Gespräch mit dem Nachbarn führen und habe ihn im Hof getroffen. "Er war betrunken und hat uns mit obszönen Wörtern beschimpft", schildert er. Der Angeklagte habe den Nachbarn aufgefordert, sich in Gegenwart der Kinder zu mäßigen, worauf Olaf K. den Angeklagten weggestoßen habe. Der arbeitslose Angeklagte reagierte ebenso, worauf der Deutsche kurz gestürzt sei. "Ich habe gefragt, ob alles in Ordnung ist, und dann gesagt, er soll das Fahrrad wieder aus dem Container holen."

Das geschah, anschließend sei er zur Apotheke gegangen und habe noch mit einem Freund geplaudert, schildert der Angeklagte weiter. Nach etwa 40 Minuten sei er zurück in seine Wohnung gekommen, wo ihm seine Gattin sagte, die Polizei sei dagewesen.

Ärger über betrunkene Lebensgefährtin

Denn Olaf K. präsentiert auch vor Gericht eine völlig andere Geschichte. "Ich wollte an dem Tag auf Urlaub fahren und hatte Stress mit meiner damaligen Lebensgefährtin, da sie betrunken gewesen war. Ich war wütend gewesen", erinnert sich der arbeitslose Zeuge, zur Regulierung des Zornes habe er in der Wohnung der Frau "zwei Schnäpse" getrunken.

Als er zurück zu seinem eigenen Appartement ging, sei das Kinderfahrrad auf dem Weg gelegen. "Ich habe es zur Seite gestellt", behauptet der Zeuge. Er habe rasch etwas aus seiner Wohnung geholt, als er zurückkam, lag das Fahrrad wieder da. "Das war absichtlich!", ist er überzeugt. "Ich war wütend gewesen", verwendet er das für austriakische Ohren ungewohnte Plusquamperfekt. Daher habe er beschlossen, das Rad im Müllcontainer zu entsorgen.

Bei seiner ersten Aussage bei der Polizei sagte Olaf K. noch, er sei zur Mutter der Kinder gegangen und habe gesagt, wo sich das Gefährt befinde, und angekündigt: "Ich möchte ganz gerne mit deinem Mann sprechen." Vor Gericht behauptet er nun, die Mutter habe ihn im Hof kontaktiert.

Mit Kung-Fu-Sprung niedergestreckt

Die Kontaktaufnahme mit dem Angeklagten sei dann wenig später erfolgt, allerdings nicht so, wie er sich das vorstellte, spinnt der Zeuge seine Geschichte weiter. Er sei zu seiner Stiege Nummer acht gegangen, hinter der Tür habe ihn der Angeklagte gleich mit einem Kung-Fu-Sprung mit gestrecktem Bein niedergestreckt. Zwei weitere unbekannte Täter, die er noch nie gesehen hatte, seien dazugekommen, zu dritt hätten die Angeklagten auf ihn eingetreten und eingeprügelt.

"Wohin überall?", fragt die Richterin. "Überall hin. Gesicht, Arme, Rücken, Oberkörper", schildert er die Szene dramatisch. Er sei auf dem Boden gelegen und habe nur versucht, seinen Kopf zu schützen. "Warum haben Sie nicht um Hilfe gerufen?", wundert sich Klestil-Krausam. "Es war sonst niemand da", lautet die Antwort. "Und wer hat dann die Polizei gerufen?" – "Ich war es nicht", beteuert der Zeuge. Tatsächlich ging ein Notruf ein, wonach drei Männer einen Mann verprügeln würden, die Exekutive konnte aber nicht mehr rekonstruieren, wer der Anrufer war.

Drei Angreifer verprügelten Opfer angeblich zweimal

Laut Olaf K. sei seine Qual aber noch nicht vorbei gewesen. Er wurde von den drei Männern aufgefordert, das Rad aus dem Müllcontainer zu holen. Auf dem Weg von der Stiege acht dorthin hätten die Angreifer ihn bei Stiege sieben wieder ins Stiegenhaus gedrängt und neuerlich schwer verprügelt. Erst danach sei das Fahrrad geborgen worden. "Der Angeklagte und seine zwei Kumpanen sind danach in seiner Stiege verschwunden."

Die Richterin ist misstrauisch. Denn in seiner ersten Aussage bei der Polizei hatte Olaf K. noch geschildert, er habe die Stiege acht verlassen, vor der Tür sei der Angeklagte gestanden, habe ihn einen Rassisten genannt, und von hinten seien die beiden Unbekannten gekommen. "Das war ein Missverständnis", sagt er nun. Dass er offenbar erst korrigierte, nachdem der Angeklagte einen anderen Nachbarn, der damals auch mit seinen Kindern im Hof war, stellig gemacht hatte. Und der die Version des Angeklagten stützte.

"In diesem Block schert sich keiner darum"

Klestil-Krausam kann auch nicht nachvollziehen, wieso Zeuge K. zumindest im Hof, auf dem Weg zwischen den Stiegen acht und sieben nicht um Hilfe gerufen habe. "Sehen Sie, ich wollte es allein klären. Ich bin es gewohnt, Dinge selbst zu klären." – "Was wollten Sie da klären? Nach Ihrer Darstellung wurden Sie doch gerade von drei Männern schwer verprügelt? Da suche ich doch Hilfe?" – "In diesem Block schert sich keiner drum", sieht der Zeuge keinen Sinn in einem Appell an die Mitbewohner.

"Und warum haben Sie danach nicht die Polizei gerufen?", bohrt die Richterin nach. "Ich habe nicht daran gedacht", sagt der Zeuge zunächst, um sich dann zu korrigieren: "Nein, ich wollte eigentlich zur Polizei fahren. Aber die ist mir dann schon entgegengekommen." Den Beamten erklärte er, keinen Krankenwagen zu brauchen: "Ich bin nicht der Typ Mensch, der wehleidig ist. Eigentlich wollte ich die Sache auf sich beruhen lassen." Dass der Angeklagte nicht daheim gewesen sei, als die Polizei anläutete, wundert den Zeugen nicht. "Die sind im Erdgeschoß, die drei sind sicher durch das Fenster getürmt."

Verletzungen passen nicht zur Schilderung

Erst einige Stunden später verspürte er Schmerzen im Brustbereich und fuhr ins Krankenhaus. Der medizinische Sachverständige Christian Reiter referiert in seinem Gutachten, was dort bei Olaf K. festgestellt wurde: eine kleine Platzwunde auf der Unterlippe, eine gebrochene Rippe und Prellungen. Verteidiger Kreiner will wissen, ob diese Verletzungen auch anders entstehen könnten. Reiter schließt das nicht aus – ein Sturz im Stiegenhaus gegen das Geländer könne auch zu einem Rippenbruch führen. Mit den von Olaf K. geschilderten massiven Angriffen seien die körperlichen Folgen jedenfalls nicht in Einklang zu bringen.

Für Richterin Klestil-Krausam ist diese Einschätzung nur ein Puzzlestein, der sie zu einem rechtskräftigen Freispruch des Angeklagten bewegt. "Der Zeuge war nicht glaubwürdig", stellt sie in ihrer Begründung klar fest. "Sein ganzes Verhalten bei dem angeblichen Angriff ist lebensfremd", betont sie. Es ist für sie auch nicht nachvollziehbar, warum Olaf K. nicht um Hilfe gerufen haben sollte, wenn er gleichzeitig so aufbrausend ist, dass er ein Kinderfahrrad in den Müll schmeißt. Warum der Zeuge ganz offensichtlich eine Räuberpistole erfunden habe, könne sie nicht beurteilen, das sei für sie aber auch nicht relevant, führt die Richterin aus. Und fasst am Ende zusammen: "Ich glaube nicht, dass es so passiert ist, wie der Zeuge erzählt hat." (Michael Möseneder, 1.4.2021)