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Am 11. September 2001 steuerten Terroristen zwei Flugzeuge ins WTC.

Foto: Reuters

Die Covid-19-Pandemie, die die Medien – und die Köpfe der Menschen – seit einem Jahr thematisch dominiert, führt dazu, dass 2021 als Erinnerungsjahr an den damals so genannten Arabischen Frühling von 2011 etwas untergeht. Die Bilanz fällt düster aus, diese Einschätzung wird jedoch meist mit dem Zusatz versehen – auch in Stefan Weidners neuem Buch –, dass "das letzte Wort noch nicht gesprochen" sei.

Das zeigen die Entwicklungen seit 2019, die zu einem Umsturz im Sudan, einer neuen Dynamik in Algerien und Protestbewegungen im Irak und im Libanon geführt haben. Während wir jedoch die Zukunft der arabischen Staaten meist als regionales Problem denken, reißt der renommierte Übersetzer, Islamwissenschafter und Autor Stefan Weidner in Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart die globale Dimension an.

Auch hier geht es auch um ein Gedenken. Ja, es ist unglaublich, aber im September jähren sich die Angriffe der Terrororganisation Al-Kaida auf das World Trade Center in New York und auf das Pentagon in Washington zum 20. Mal.

Weidner nennt 9/11 das "Geburtstrauma" des 21. Jahrhunderts, ein "absolutes Ereignis", das als "Stunde null" auch Chancen bot – die versäumt wurden. Ein globaler Irrweg sei beschritten beziehungsweise fortgesetzt worden, schreibt Weidner in seinem politischen Essay, der endlich beendet werden müsste, um die großen gegenwärtigen Probleme der Menschheit – allen voran den Klimawandel – anzugehen. Vielleicht wird eine neue Generation – Stichwort Greta Thunberg –, die nicht "im Morast von 9/11 gefangen ist", neue Themen setzen.

Selbstbeschädigung

Der "War on Terror" wurde laut Weidner benützt, um die eigene imperiale neoliberale Agenda voranzutreiben, bei der alles – letztlich auch das eigene demokratische System – auf der Strecke bleibt. Vor der Präsidentschaft Donald Trumps hätte man letzterer Einschätzung vielleicht noch mit mehr Elan widersprochen als heute.

Inzwischen ist die Infragestellung von Werten, die man im Westen als in Stein gemeißelt gesehen hat, längst auch in Europa angekommen. In den USA versucht ein Joe Biden den Faden wieder aufzugreifen, um den USA die Glaubwürdigkeit als Orientierungsmodell wiederzugeben, die sie einmal beanspruchten.

Es ist natürlich immer riskant, in der politischen Geschichte einen Nullpunkt festlegen zu wollen, an dem richtig oder falsch abgebogen wurde. In diese Falle tappt Weidner natürlich nicht, der gesamte erste Teil des Buchs widmet sich der "Vorgeschichte". Auch in dieser Beziehung markiert 2021 einen runden Jahrestag – die 30. Wiederkehr des Golfkriegs zur Befreiung Kuwaits. Dieser wäre seinerseits ohne die gleichzeitige Beendigung des West-Ost-Konflikts durch den Niedergang der Sowjetunion überhaupt nicht möglich gewesen.

"Sinnvolle Aufgaben"

In seinem "Epilog" zitiert Weidner Ben Rhodes, Sicherheitsberater unter Barack Obama, mit der Aussage, dass zwischen 1991 und 2011 für die USA ein Jahrzehnt lag, in dem "sinnvolle Aufgaben fehlten". Die neue Weltordnung, die George W. H. Bush zum Ende des Kalten Kriegs ausrief, war wohl als gegeben angenommen worden, als "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama), bis die USA 2001 quasi eine dem Kalten Krieg gleichwertige Herausforderung fanden: den "Terror" auszurotten, den "islamischen", wozu das Kreuzfahrerbild bemüht werden musste.

Dieses Unternehmen ist nicht nur nicht gelungen, das Aufkommen des sogenannten "Islamischen Staats" ließ Al-Kaida historisch fast verblassen. Und der IS hatte seine organisatorischen Wurzeln just im Irak, in den Präsident Bush junior 2003 einmarschiert war, ebenfalls eine – schon damals umstrittene – Antwort auf 9/11.

Sie setzte der US-Politik der "doppelten Eindämmung" von Iran und Irak ein Ende und damit ganz neue Dynamiken in der Region in Gang. Allerdings wäre das Problem des 1991 mitsamt Saddam Hussein "eingefrorenen" Irak auch ohne 9/11 früher oder später zur Lösung – im besten Fall allerdings durch innere Entwicklungen – angestanden.

Weidners Plädoyer für eine völlig neue Politik, die sozialen und ökologischen Fortschritt in den Mittelpunkt stellt und die er "Biokosmopolitismus" nennt, ist engagiert und überzeugend: Seine Betrachtungen darüber, wie die internationale Politik mit der laufenden Corona-Pandemie umgeht – nämlich als bloße Gesundheitskrise –, nähren jedoch wohl auch seine eigenen Zweifel, ob wir bereit sind, das Ruder herumzureißen.

Was immer man von seinem Appell mitnimmt, sein Ansatz zur Beschäftigung mit der jüngsten Nahost-Geschichte ist in Zeiten der populistischen Vereinfachungen mehr als willkommen. Und schreiben kann er auch. (Gudrun Harrer, 3.4.2021)