Raffiniert entwickelt Ljudmila Ulitzkaja die kleine Geschichte mit doppeltem Boden.

Foto: Christian Fischer

Man stelle sich vor, Albert Camus hätte Die Pest nicht als Roman, sondern als Filmdrehbuch geschrieben, der Weltliteratur wäre viel entgangen! Vielleicht sollte sich das auch Ljudmila Ulitzkaja fragen, ob sie mit ihrem Szenario Eine Seuche in der Stadt etwas versäumt hat, um wie viel beeindruckender nämlich dieser Stoff, als Roman gestaltet, hätte sein können.

Keine verbindliche Erzählinstanz führt den Leser durch die Handlung, stattdessen werden ihm aneinandergereihte kurze Szenen vorgeführt, freilich in kühner Schnitttechnik, aber eben auch in sparsamster Sprache. Auf Beschreibungen wird verzichtet, die notwendigen Mitteilungen erfolgen im Stil knapper Regieanweisungen. Und dennoch ergibt dieser Drehbuchroman einen modernen, dynamischen Text, der verblüfft.

Kurz vor Weihnachten 1939 wird ein Seuchenmediziner nach Moskau zum Volkskommissariat für Gesundheit einbestellt, aus dem "Pestlabor" in der Provinz direkt in die politische Machtzentrale. Unmittelbar nach seinem Vortrag im Kollegium erkrankt er, im Spital wird Lungenpest diagnostiziert, sofort treten Quarantänemaßnahmen in Kraft. Der Patient und der behandelnde Arzt sterben, aber innerhalb weniger Tage gelingt es der Geheimpolizei, alle möglichen Kontaktpersonen ausfindig zu machen und zu isolieren, ein Ausbruch der Pest kann so verhindert werden.

Dieses Geschehen hat sich tatsächlich damals in Moskau abgespielt, nur wusste in der gesamten UdSSR kaum jemand von dem Gefahrenszenario, auch später blieb die damals drohende Pestepidemie unter staatlicher Geheimhaltung. Ljudmila Ulitzkaja hatte durch Zufall davon erfahren, von einer Freundin, deren Vater damals als Pathologe am Geschehen beteiligt war.

Beängstigendes Abbild

Das eigentlich Spannende an dieser Geschichte ist der politische Hintergrund: 1939, auf dem Höhepunkt der stalinistischen Säuberungen, ist die Angst vor der Geheimpolizei größer als vor einer Epidemie, das macht die Seuchengeschichte schließlich zur politischen Parabel, ja zu einem beängstigenden Abbild des stalinistischen Terrorsystems.

Raffiniert entwickelt Ulitzkaja diese kleine Geschichte mit doppeltem Boden. Die zu isolierenden Personen werden von der Geheimpolizei mit Häftlingstransportern, sogenannten "Schwarzen Raben", abgeholt. Aufforderungen wie "Kommen Sie mit!" oder bange Fragen von Angehörigen: "Kommen sie dich holen?" beschreiben die Atmosphäre der Angst, die damals in der Bevölkerung geherrscht hat.

Verhaftungen waren an der Tagesordnung, wo läge also der Unterschied, wenn jemand nur aus medizinischen Gründen fortgebracht wird? "Zwei Männer (…) führen ihn ab", das liest sich ebenso lapidar wie doppeldeutig. Und bleibt auch nicht ohne Folgen: Ein Oberst der Armee erschießt sich, weil er glaubt, nun verhaftet zu werden. Eine Frau denunziert ihren Mann, nachdem er abgeholt wurde, weil sie plötzlich Zweifel hat, ob er wirklich überzeugter Kommunist ist.

Mit wenigen Szenen, ja wenigen Sätzen entsteht so ein düsteres Kammerspiel, ein Film noir. Genau hier zeigt sich die Perfidie dieser Geschichte: Es ist der Geheimdienst, der NKWD, Stalins brutales Machtinstrument, der die Seuche im Keim ersticken kann, weil sofort das System der staatlichen Bespitzelung und Repression höchst erfolgreich zu arbeiten beginnt.

Man könnte sich kein effektiveres Contact-Tracing als jenes, das auf totaler Überwachung und Einschüchterung basiert, vorstellen. In der aktuellen Realität hat uns China ja vorgeführt, um wie viel besser ein autoritäres System auf eine solche Krise reagieren kann.

An der Seite von Camus

Und genau hier setzt Ulitzkaja an: Viel schrecklicher als die Seuche sei die "politische Pest", schreibt sie im Nachwort. 1978, noch zu Zeiten des Regimes, hatte sie den Stoff als Filmskript eingereicht, um an einem Drehbuchgrundkurs teilnehmen zu können. Obwohl ein professionelles Skript, wurde der Text nicht angenommen.

Doch er fiel nicht der sowjetischen Zensur zum Opfer, der verantwortliche Filmautor, selbst Opfer stalinistischer Verfolgung, wollte nur nicht damit vermittelt wissen, dass der repressive Machtapparat von Stalins Geheimdienst ein einziges Mal etwas "Nützliches" getan hätte.

So blieb diese Geschichte liegen, bis die Autorin – sie war früher Biologin – sie im vorigen Jahr wieder ausgrub und aufgrund der unerwarteten Aktualität für eine Veröffentlichung adaptierte. Der Corona-Krise hätte es freilich nicht bedurft, diesen Text in die Öffentlichkeit zu bringen, seine Bedeutung und Qualität sind unbestritten. Schade nur, dass es beim sprachlich minimalistischen Szenario blieb und Ulitzkaja keinen eindrücklichen Roman daraus gemacht hat. Der hätte vermutlich Literaturgeschichte schreiben und an die Seite von Camus treten können. (Gerhard Zeillinger, 5.4.2021)