Seit knapp einer Woche ist Julian Reichelt wieder im Amt. Der Chefredakteur der "Bild"-Zeitung ist Mitte März auf eigenen Wunsch wegen eines internen Compliance-Verfahrens freigestellt worden. Rund ein halbes Dutzend Mitarbeiterinnen hatte anonym Vorfälle gegen den 40-Jährigen eingebracht.

Die Vorwürfe: Reichelt soll einvernehmliche Beziehungen mit den Mitarbeiterinnen gehabt haben und ihnen währenddessen Vorteile verschafft haben. Sobald er die Beziehungen beendet habe, seien die Frauen wieder fallengelassen worden, berichtet die "Zeit". Neben dem Machtmissbrauch und Ausnutzen von Abhängigkeitsverhältnissen – etwas, das in der MeToo-Bewegung immer wieder angeprangert wird – wurde Reichelt auch Kokainkonsum am Arbeitsplatz vorgeworfen.

Nach einem Compliance-Verfahren wieder da: "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt.
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Der Fall hat eine Debatte um Compliance, die Integrität von Chefinnen und Chefs und deren Führungskultur sowie interne Verfahren losgetreten. Unter Compliance wird prinzipiell die Einhaltung rechtlicher Regeln und interner Vorgaben in Unternehmen verstanden. Bekannt sind solche sogenannten Codes of Conduct vor allem aus der Finanzdienstleistung, wo so etwa betriebswirtschaftlich integres Handeln sichergestellt werden soll.

Moralisches Handeln

Solche Kodizes regeln zum Beispiel das Verhalten der Beschäftigten gegenüber Konkurrenten oder welche Einladungen und Geschenke sie annehmen dürfen. Aber auch moralisches Handeln, Diversität und Gleichbehandlung zählen oft zu Compliance. Um deren Einhaltung zu prüfen, haben die meisten großen Unternehmen Compliance-Abteilungen oder Chief Compliance Officers, an die man sich vertraulich wenden kann.

Bei der "Bild"-Zeitung dauerte die interne Untersuchung mehr als vier Wochen. Der Chief Compliance Officer und drei Anwälte von Freshfields untersuchten verschiedene Hinweise auf mögliches Fehlverhalten. Laut Angaben von Beteiligten konfrontierten die Juristen Reichelt aber nicht mit Einzelfällen des Fehlverhaltens, berichtet die "Zeit". Angeblich um die Identität der Frauen zu schützen. Reichelt räumte zwar bei der Vermischung von privaten und beruflichen Beziehungen Fehler ein und entschuldigte sich, bestritt in der Befragung aber den Machtmissbrauch und legte eine eidesstattliche Erklärung ab.

Das Ergebnis der Untersuchung: Laut Stellungnahme des Axel-Springer-Verlags habe es "keine Vorwürfe und auch im Untersuchungsverfahren keine Anhaltspunkte für sexuelle Belästigung oder Nötigung" gegeben. Auf Basis dessen habe der Springer-Vorstand laut einer Stellungnahme beschlossen, "dass es nicht gerechtfertigt wäre, Julian Reichelt aufgrund der in der Untersuchung festgestellten Fehler in der Amts- und Personalführung – die nicht strafrechtlicher Natur sind – von seinem Posten als Chefredakteur abzuberufen".

Macht teilen

In der Gesamtbewertung seien auch "die enormen strategischen und strukturellen Veränderungsprozesse und die journalistische Leistung" unter Reichelts Führung berücksichtigt worden. Dem Vorstand sei aber klar, dass sich an der Führungskultur der "Bild" etwas ändern müsse. Die Konsequenz: Reichelt muss nun seine Macht teilen. Ihm wurde Alexandra Würzbach, Chefin der "Bild am Sonntag", zur Seite gestellt. Während er sich vor allem dem Digitalen und Print widmen soll, soll sie sich neben der Sonntagszeitung um Personal- und Redaktionsmanagement kümmern. Ebenso soll der Code of Conduct laut Spiegel-Berichten überarbeitet werden.

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Gudrun Heidenreich-Pérez ist Director im Consulting mit Schwerpunkt Führung bei der Beratung Deloitte, die auch Compliance-Management-Systeme anbietet. Die Beraterin sieht noch Luft nach oben: "Papier ist geduldig. Man kann neue Regeln formulieren, aber Compliance ist Führungsaufgabe, die vorgelebt und vermittelt werden muss." Zudem dauere es lange, um als Chef in einer solchen Situation das Vertrauen der Belegschaft wieder zu erarbeiten.

Damit es gar nicht so weit komme, seien Persönlichkeitsassessments bei der Besetzung von Führungspositionen wichtig, sagt Heidenreich-Pérez. "So kann man feststellen, was einer Person wichtig ist, welche Werte sie hat und wonach sie ihr Handeln ausrichtet. Aber auch, welche Risikoaspekte im Verhalten – die jeder von uns hat – wie stark ausgeprägt sind." Eine integre Leitung erkennt und misst man auch am Zwischenmenschlichen: "Wie wertschätzend, respektvoll und fair behandelt sie Mitarbeiter, wie geht sie mit anderen Meinungen um, hält Balance zwischen Durchsetzung und Empathie?"

Unternehmenskultur

Auch das eigene Verhalten zu hinterfragen und Fehler einzugestehen gehört zur Integrität. "Wie sich Führungskräfte verhalten, spiegelt letztlich auch die Unternehmenskultur wider", sagt die Beraterin. Auch Julian Reichelts Fall zeichnet ein raues, männliches und teils entwürdigendes Arbeitsklima bei der "Bild". Und es ist nicht sein erster: Laut einem "Zeit"-Artikel gab es 2018 ein internes Verfahren, ob er wegen einer persönlichen Beziehung die Compliance-Regeln verletzt haben könnte.

2017 hat Reichelt als Nachfolger von Kai Diekmann die Leitung der "Bild"-Gruppe übernommen. Als Diekmann aus dem Verlag schied, wurde ihm von einer Mitarbeiterin sexuelle Belästigung vorgeworfen. Er hat die Vorwürfe bestritten, nach internen Untersuchungen bei Springer stellte auch die Staatsanwaltschaft Potsdam das Verfahren ein, da kein strafbares Verhalten festgestellt wurde. (set, 3.4.2021)