Unmittelbar nachdem am 4. Jänner ein britisches Gericht den Antrag der USA auf Auslieferung des Australiers Julian Assange zurückgewiesen hatte, konnte es sich der User oder die Userin "Spezialfahrzeug" im STANDARD-Forum nicht verkneifen, nachträglich noch einen hämischen Kommentar unter meinen bislang letzten Blogbeitrag zu diesem Thema zu setzen: „Nun ja, Herr Rosner, Ihr herbeigeschriebener Skandalprozess findet nicht statt, wie wir heute wissen — und eigentlich schon immer wussten.“

Das Gerichtsurteil vom 4. Jänner hätte demnach also alle Kritik am Vorgehen gegen Assange obsolet gemacht, die britische Justiz wäre nun doch in Ordnung, und wir könnten wieder beruhigt sein? Die Dinge stehen leider völlig anders.  

Der verewigte Skandal

Wenn man es darauf abgesehen hätte, eine Verschwörungstheorie zu basteln, so könnte man regelrecht an ein ganz raffiniertes Komplott glauben, dermaßen günstig ist die Sache nun aufgrund des subtil formulierten Urteils von Richterin Vanessa Baraitser für die Gegner Assanges gelaufen. Hätte das Gericht dem Antrag auf Auslieferung nämlich einfach rundweg zugestimmt, dann hätte dies womöglich doch eine größere Welle der Empörung in der europäischen Öffentlichkeit ausgelöst. Die Proteste hätten Nahrung bekommen und sich vervielfacht. Und dann hätten vielleicht auch einige bis dahin zögerliche Spitzenpolitiker in der EU deutlicher das Wort dagegen ergriffen. Die britische Justiz wäre gar nicht gut dagestanden, und die Angelegenheit wäre bis zum Europäischen Gerichtshof getragen worden. Alles eine peinliche Angelegenheit. Auch in den USA hätte es Gegenwind geben können, denn grundsätzlich ist dort freier Journalismus ein hoch angesehenes Gut.

Das hat man sich nun erspart. Das Urteil, so wie es gefällt wurde, hat den öffentlichen Diskurs ruhiggestellt, Kritikern den Wind aus den Segeln genommen, der große Skandal blieb aus, die öffentliche Aufmerksamkeit hat wieder nachgelassen. Assange kann weiterhin im Gefängnis verrotten, und fast alle schauen weg. Alles scheint ohnehin wieder in Ordnung zu sein.

Tatsächlich jedoch ist der Skandal mit diesem Urteil nicht beendet, sondern ganz im Gegenteil verlängert worden. An der Lage des Wikileaks-Gründers hat sich, und das wird von vielen geflissentlich übersehen, dadurch bis jetzt überhaupt nichts zum Besseren gewendet. Seit gut zwei Jahren befindet sich Assange bereits unter menschenrechtswidrigen Umständen in Isolationshaft — auch als „Weiße Folter“ bezeichnet — in Belmarsh, einem Londoner Hochsicherheitsgefängnis, das für gemeingefährliche Mörder und Terroristen vorgesehen ist und dessen Haftbedingungen so berüchtigt sind, dass es das „britische Guantanamo“ genannt wird. Das Urteil vom 4. Jänner hat bizarrerweise daran überhaupt nichts geändert.

Und das, man kann es nicht oft genug wiederholen, obwohl der Australier auf englischem Boden kein anderes Verbrechen begangen hat als gegen Kautionsauflagen zu verstoßen. Üblicherweise gibt es dafür nicht einmal eine Haftstrafe.

Eine Katastrophe für die Pressefreiheit

Assange wurde hingegen dafür zu ganzen 50 Wochen verdonnert, die er natürlich längst abgesessen hat. Um ihn danach nicht freilassen zu müssen, wurde rasch ein passender Vorwand gefunden: Sein derzeitiger Gefängnisaufenthalt gilt als Präventivhaft wegen Fluchtgefahr. Das muss man sich einmal vorstellen: Präventivhaft in einem derartigen Hochsicherheitsgefängnis unter derartigen Bedingungen, ohne eine rechtskräftige Verurteilung, für einen Journalisten, dem lediglich seine Veröffentlichungen vorgeworfen werden. So etwas hat keine rechtliche Grundlage.

Der Schweizer Nils Melzer, UN-Sonderbeauftragter für Folter, macht die Relationen klar, indem er darauf hinweist, wie im Vergleich dazu die Präventivhaft aussah, der der von den USA geförderte und für Massenmorde verantwortliche chilenische Diktator Augusto Pinochet zwischen 1998 und 2000 in Großbritannien unterstellt war: Er erhielt Hausarrest in einer komfortablen Villa, in der er unbegrenzt Besuch empfangen konnte, unter anderem auch den der ehemaligen Premierministerin Margaret Thatcher

Von weitreichender Bedeutung aber ist: Das Gericht unter dem Vorsitz von Baraitser hat in allen Punkten der Anklage zugestimmt und damit einen verheerenden Präzedenzfall geschaffen, der der Kriminalisierung und Verfolgung von US-kritischen investigativen Journalisten Tür und Tor öffnet. Und das nun sogar auf extraterritorialem Gebiet, das heißt weltweit, wo auch immer die USA einer Person irgendwie habhaft werden können, und gleichgültig, ob es sich nun dabei um einen amerikanischen Staatbürger handelt oder nicht. Man muss sich das einmal vorstellen, was für eine unglaubliche Machtfülle hier den Vereinigten Staaten rechtlich zugestanden wird.

Einzig und allein der angeschlagene gesundheitliche Zustand des Wikileaks-Gründers wurde als Argument für die Ablehnung des Antrags auf Auslieferung angeführt. Inhaltlich, und das ist das eigentlich Erschreckende, gibt es überhaupt keine Differenzen zwischen der britischen Justiz und den Vertretern der amerikanischen Regierung. Es ist in dieser Hinsicht also das Schlimmste eingetreten, was kluge Köpfe befürchtet haben.

Österreichischer Journalist*innen Club

Ein Urteil mit Tücken

Hinzu kommt: Der Antrag auf Auslieferung wurde zwar zurückgewiesen, aber die spezifische Begründung der Ablehnung ist durch und durch vorteilhaft für die USA. Welches Szenario sich nun auch genau abspielen wird, die Amerikaner haben das Spiel bereits gewonnen. Assange sitzt in der Falle, so oder so. Sie werden ihn nicht mehr aus den Fingern lassen. Warum das so ist, sei hier kurz erklärt.¹

Zum einen hat die Berufung gegen ein solches Urteil gute Chancen. Die amerikanischen Kläger brauchen im Grunde nur versichern, dass sie Assange gut behandeln werden, und damit könnte das Höchstgericht sofort grünes Licht für die Auslieferung erteilen.

Oder aber das Höchstgericht verfügt die Neuauflage des Verfahrens in erster Instanz. Auf diese Weise kann sich das Verfahren noch über Jahre ziehen, ohne dass Assange dabei aus Belmarsh herauskommt. Wie Melzer mehrfach dargelegt hat, spielt es für die USA keine besondere Rolle, ob Assange in London irgendwann den Strapazen der Isolationshaft erliegt und auf diese Weise aus dem Leben scheidet oder ob er in den USA wegen Spionage zu 175 Jahren in einem ähnlichen Hochsicherheitsgefängnis verurteilt wird. Wichtig für die Amerikaner ist, dass er nie mehr seiner journalistischen Tätigkeit nachgehen kann und ein abschreckendes Exempel an ihm statuiert wird.

Aber selbst wenn es so ausgehen sollte, dass der Wikileaks-Gründer das alles überlebt und er am Ende aufgrund seines gesundheitlichen Zustands aus Belmarsh entlassen wird, wird er sich für den Rest seines Lebens nur mehr unter Anführungszeichen in „Freiheit“ befinden. England wird er nämlich nie mehr verlassen können.

Dort wurde der Auslieferungsantrag zwar abgelehnt, aber kaum betritt er ein anderes Land, kann das ganze Spiel von vorne beginnen, kann er verhaftet und ein neuer Auslieferungsantrag gegen ihn gestellt werden. Selbst wenn er in England bleibt, befindet er sich aber nicht in Sicherheit. Es bräuchte nur eine Verbesserung seines gesundheitlichen Zustands festgestellt werden, und dann könnte er doch wieder verhaftet und ausgeliefert werden, weil ja dann der Grund der Ablehnung des Auslieferungsantrags weggefallen wäre. Alle diese Optionen hält das gefinkelte Urteil, das Baraitser gefällt hat, offen.

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Das gigantische Ablenkungsmanöver

In der Falle mit Assange sitzen aber vor allem wir selbst. Es geht um Demokratie und Pressefreiheit, um Menschenrechte und um die geheim gehaltenen Kriegsverbrechen der USA, die nicht Thema sein dürfen. Melzer weist wiederholt darauf hin, wie sehr es den amerikanischen Strategen gelungen ist, davon abzulenken. Sie haben den Scheinwerfer auf den Australier gerichtet, weg von den Untaten, um die es eigentlich gehen sollte.

Das Ergebnis ist, dass wir zwar einerseits zu wenig über Assange reden, auf der anderen Seite aber im Grunde immer schon viel zu viel, selbst dann, wenn wir ihn verteidigen. Um ihn hätte es nie gehen sollen. Das ursprüngliche Anliegen Assanges, Umtriebe, Korruption und Verbrechen der Mächtigen aufzudecken, die Inhalte, die er eigentlich transportieren wollte, die kommen gar nicht mehr zur Sprache, die werden von den Diskussionen um seine Person verdeckt.

Diejenigen amerikanischen Soldaten, die, wie Wikileaks publik gemacht hat, einfach so zum Spaß aus einem Hubschrauber Passanten in Bagdad abgeknallt haben, über die redet niemand, die laufen frei herum und die werden auch nicht gerichtlich verfolgt. Und einige andere Kriegsverbrecher hat das Weiße Haus sogar explizit begnadigt. Assange aber sitzt für nichts im Hochsichterheitsgefängnis. Irgendetwas läuft hier also grundlegend falsch.

Schätzungen zufolge haben die USA in den letzten 30 Jahren allein im Irak 2,7 Millionen Menschen getötet. „Ich schere mich nicht um das, was diese Völkerrechtsanwälte sagen, wir müssen einige in den Arsch treten“, hat seinerzeit US-Präsident George W. Bush sein allen Menschenrechten spottendes Vorgehen verteidigt. Sein Nachfolger Barack Obama drückte es zwar nicht so grobschlächtig aus und gab sich besser erzogen — tatsächlich aber unterschieden sich seine Handlungen nicht viel von denen seines Vorgängers. Sein Spezialgebiet wurde der Drohnenmord.

Wenn jedoch in Myanmar Militärgewalt gegen Demonstranten eingesetzt wird, dann empört sich der frisch gebackene US-Präsident Joe Biden scheinheilig darüber und nennt so ganz nebenbei auch noch den russischen Staatschef Wladimir Putin einen "Mörder". Derselbe Biden, der neuerlich die Auslieferung von Assange verlangt hat, obwohl er den Fall nicht weiter hätte verfolgen müssen. Diese unverschämte Heuchelei des Westens ist es, die unerträgliche Ausmaße angenommen hat und viel mehr Thema sein sollte.

Störung im Selbstbild des Westens

Wir kommen hier vielleicht zum eigentlichen Kern dessen, warum das amerikanische Imperium derart aggressiv und feindselig gegen den Australier und Wikileaks vorgeht, warum auch seine europäischen Partner lieber Stillschweigen über den Fall bewahren und warum wir uns überhaupt so schwer tun, über das alles zu sprechen. 

Wir tragen alle (die meisten von uns) ein völlig verklärtes Bild des Westens in uns, der USA im Speziellen. Es handelt sich um ein Selbstbild, mit dem wir aufgewachsen sind, zu dem wir erzogen worden sind und das im öffentlichen Diskurs seit den 50er-Jahren eifrig gepflegt wurde und auch immer noch wird. Es ist ein Bild des Westens, das sich erheblich von dem unterscheidet, was in anderen Regionen der Welt über die USA und den Westen gedacht wird, nicht nur in Russland, sondern überall dort, wo der Westen mit seinen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interventionen Unheil angerichtet hat.

Neben diesem idealisierten Selbstbild des Westens gibt es also eine ganz andere Wirklichkeit des Westens, die verborgene Geschichte des Westens, von der wir, die wir im Westen leben, ironischerweise am wenigsten mitbekommen, und die teilweise auch ganz bewusst von uns ferngehalten wird.

„The Untold History of the United States“ hat darum der Hollywood-Regisseur Oliver Stone eine zehnteilige Dokumentation genannt, die er zu diesem Thema produziert hat. Es ist eine grundlegend andere Geschichte als das Kindergartenmärchen, das wir sonst immer um die Ohren geschlagen bekommen: ein Märchen, in dem mal der russische Präsident Putin (früher die Sowjets) der Böse ist, dann wieder China, dann der Iran, und überhaupt das Böse an allen möglichen Orten auf der Welt an der Macht ist, aber sicherlich nicht in den USA und auch nicht in Europa. Die retten uns dann vor dem bösen Putin, dem bösen China und dem bösen Iran („Schurkenstaaten“) und bringen überall auf der Welt Menschenrechte und Demokratie hin.

Sicherlich, das Phänomen Trump beispielsweise stellte eine erhebliche Irritation für dieses infantile Micky-Maus-Weltbild dar, ebenso die rechtspopulistischen Regierungen Osteuropas. Aber andererseits hatte man auch kein allzu großes Problem damit. Der US-Präsident wurde als durchgeknalltes psychopathisches Individuum abgetan, anstatt dass man ihn als ungewöhnlich authentischen Ausdruck eines in vielerlei Hinsicht perversen amerikanischen gesellschaftlichen und politischen Systems begriffen hat, das eine solche Persönlichkeit hervorgebracht hat. Und die osteuropäischen Regierungspolitiker werden eben schlichtweg nicht als „richtige“ Europäer betrachtet. Jedenfalls sind sie nicht „wir“. Denn „wir“, das heißt, der Westen, „wir“ sind grundsätzlich immer die Guten, die Demokraten, die Liberalen, das Böse aber ist immer woanders, in dem „Nicht-Wir“.

Natürlich gibt es vieles, was auch bei „uns“ nicht in Ordnung ist, was auch bei „uns“ kritisiert werden darf, aber im Großen und Ganzen stimmt alles bei „uns“, anders als woanders auf der Welt. Das ist das Narrativ, das mehr oder weniger alle, die im Westen aufgewachsen sind, von kleinauf gelernt und internalisiert haben. Das kenne ich zur Genüge, weil es mich ja auch selbst betrifft.

Assange, ein Opfer des westlichen Narrativs?
Foto: AFP/PEDRO PARDO

Gefährdung des westlichen Grundnarrativs

Assange aber hat mitten in das Herz dieses verklärten, idealisierten und heuchlerischen Selbstbildes des Westens gezielt. Er hat offengelegt, wie sehr es auf Lügen gebaut ist und in welchem Ausmaß das Böse gerade an den Schaltstellen des Westens zuhause ist. Er hat sich mit den Mächtigen angelegt. Das haben zwar auch schon andere vorher getan, aber er war dabei so erfolgreich wie kein zweiter, aufgrund seiner Vernetzung mit führenden Massenmedien und einer genialen Idee: einer Informationsaustauschplattform namens Wikileaks. Er hat damit das herrschende Narrativ ernsthaft gestört und durchbrochen. Das, was er veröffentlicht hat, darf schlicht nicht veröffentlicht werden. So etwas geht nicht.

Hier löst sich auch das Rätsel, wieso die europäische Politik im Falle Assanges ganz anders reagiert als beim vom Kreml verfolgten Politiker Alexej Nawalny. In vielerlei Hinsicht sind die beiden Fälle vergleichbar. Obwohl es im Unterschied zu Nawalny bei Assange — bislang — zu keinem Giftanschlag kam, schmiedete der amerikanische Geheimdienst bereits konkrete Plane für genau einen solchen Schritt. Nawalny und Assange sind somit in gewisser Hinsicht Spiegelbilder, der eine ein Opfer der Amerikaner, der andere eins der Russen.

Und trotzdem, wie unterschiedlich ist der Umgang der europäischen Politik mit den beiden Rebellen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel höchstpersönlich eilt öffentlichkeitswirksam ans Krankenbett Nawalnys, und er wird zu einem bedeutsamen russischen Oppositionellen hochstilisiert, der sich heldenhaft gegen Putin stellt. Und das, obwohl er — was gerne unter den Tisch fallen gelassen wird — eine fragwürdige Gestalt ist, mit Wurzeln im ultranationalistischen und rechtsextremistischen Milieu. In einem Video hat er auch schon mal Moslems sehr anschaulich als Kakerlaken dargestellt, die er mit der Fliegenklatsche erschlägt oder gar mit der Pistole erledigt.

Seinetwegen — angeblich seinetwegen, das müssen ja nicht die wahren Gründe sein — werden sogar Sanktionen gegen Russland verhängt. Wenn Melzer aber bei den zuständigen Stellen der deutschen Bundesregierung für Assange zu intervenieren versucht und ruhig und sachlich handfeste Beweise für die schweren Menschenrechtsverletzungen an diesem vorlegt, stößt er auf taube Ohren. Der Fall interessiert dort keinen, oder mehr noch: damit will niemand etwas zu tun haben. Das ist zu heikel, daran will keiner rühren. Von irgendwelchen Sanktionen gegen die USA oder Großbritannien natürlich ganz zu schweigen.

Wir haben es hier einfach mit einem Bereich zu tun, in dem der Rechtsstaat und Menschenrechte nichts mehr zählen, erklärt sich das Melzer. Niemals werden sich westliche Regierungspolitiker auf die Seite Assanges stellen. Melzer legt auch dar, warum das so ist: Deren Geheimdienste sind alle untereinander verflochten, sie arbeiten eng miteinander zusammen, und was gegen die USA geht, geht daher gegen sie alle. Keiner von denen hat ein Interesse daran, dass da einer wie Assange etwas über sie zutage fördert. Man müsse realistisch sein, sagt Melzer: Es sei eine Illusion zu glauben, die Regierungspolitiker würden sich aus Rücksichtnahme auf die Menschenrechte gegen ihre Geheimdienste stellen.

Ich drücke es ein wenig anders aus: Assange musste aus dem Weg geräumt werden, weil er das grundlegende Narrativ zu zerstören drohte, welches das Machtfundament der westlichen Gesellschaften darstellt.

Ein Familiengeheimnis

Ich würde es gerne auch ein wenig philosophisch formulieren. Das Drama um Assange ist Ausdruck einer Gesellschaft, die ihr eigenes Anderes nicht kennt — und nicht kennen will. Die das Böse immer in ein absolut Anderes projizieren muss, mit dem sie nichts gemeinsam hat. Zumindest muss sie vorgeben, dass sie nichts damit gemeinsam hat. So ähnlich wie in der Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde.

Das spiegelt sich in dem, was nach dem 9/11-Anschlag 2001 Bush klipp und klar gesagt hat wieder: Alle in der Welt sollen wissen, entweder ihr steht auf unserer Seite, oder aber auf der der Terroristen. Etwas Drittes schloss er damit diktatorisch aus, ebenso wie er nicht die Denkmöglichkeit zuließ, dass er selbst ein Terrorist sein könnte.

Mit dem derzeitigen Schweigen zu Assange verhält es sich nicht viel anders als wie mit einem wohlgehüteten Familiengeheimnis. Jeder weiß, was Sache ist, aber niemand redet darüber. Er aber hat begonnen über Dinge zu sprechen, von denen man normalerweise nicht spricht. Von den Leichen im Keller. Und zwar, und darin liegt der Skandal, von den Leichen in unserem eigenen Keller, nicht in dem der anderen.

Er hat zu reden begonnen, und er hat damit den schönen Schein zerstört. Oder es drohte, dass das geschah. Bevor das wirklich geschah, hat man aus ihm selbst eine Leiche im Keller gemacht. Eine Leiche im Keller des Westens. (Ortwin Rosner, 9.4.2021)

¹ Im folgenden Abschnitt und auch in einigen anderen Passagen folge ich den Einschätzungen des UN-Sonderbeauftragten Nils Melzer, die er während einer Online-Podiumsdiskussion geäußert hat. Die meisten dieser Aussagen hat er aber in anderem Rahmen immer wieder wiederholt, nur leicht variiert.

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