Die Kirche verliert stetig an Terrain, sagt die katholische Pastoraltheologin Regina Polak im Gastkommentar, längst steht das Überleben der christlichen Botschaft auf dem Spiel.

Illustration: Felix Grütsch

Es ist paradox: Während Religiosität europaweit kontinuierlich abnimmt, erfährt Religion in politischen Diskursen intensive Aufmerksamkeit. Laut der jüngsten Europäischen Wertestudie erodiert gelebte Religiosität vor allem bei jungen Menschen und mittlerweile auch in hochreligiösen Ländern wie Polen, Rumänien und Österreich. Zugleich sind säkularisierte Gesellschaften infolge religiöser Pluralität mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Religiöse Lebensformen von Migranten – muslimische, katholische und orthodoxe – irritieren das säkulare Verständnis von Religion. Stärker kulturell eingebettet und mit dem Anspruch auf sichtbare Teilhabe stellen sie jene normativen Ordnungsvorstellungen infrage, die Religion als private Weltanschauung betrachten, die möglichst unsichtbar bleiben soll. Dies führt zu Spannungen und Konflikten, die sich auf die Frage fokussieren, wie öffentlich und politisch Religion sein darf.

Dabei steht vor allem die muslimische Bevölkerung im Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Anschluss an die Flüchtlingskrise 2015 wurde "Religion" zu einem Distinktionsmarker: Konflikte rund um Kultur, Werte, Normen, Rechte, Bildung oder die Verteilung von Macht und Ressourcen werden vielfach "religionisiert". Vor allem "der Islam" wird als Ursache gesellschaftlicher Probleme betrachtet. Demgegenüber zeigen empirische Studien den heterogenen Einfluss von Religiosität: Erst in Kombination mit Autoritarismus stärkt sie antidemokratische Einstellungen, in Verbindung mit sozialer Praxis fördert sie Solidarität – und dies unabhängig von der konfessionellen Zugehörigkeit.

Deutliche Umkehrung

Fortschreitende Säkularisierung, religiöse Pluralität, die Problematisierung des Islam und die Konflikte um öffentliche und politische Ansprüche von Religion haben auch auf die Kirchen Auswirkungen, denn Religion wird dabei als solche zum Gegenstand der Kritik. In den Konflikten um sozial- oder migrationspolitische Positionen der Kirchen zeigt sich, dass selbst die katholische Kirche in Österreich rechenschaftspflichtig geworden ist. Diese Dynamik ist nicht neu. Mit der Moderne beginnt eine mittlerweile deutlich erkennbare Umkehrung: Nicht Menschen ohne religiöses Selbstverständnis müssen sich rechtfertigen, sondern religiöse Menschen müssen ihre Werte und ihre Glaubenspraxis begründen.

Die Dynamik beschleunigt eine Herausforderung, vor der vor allem die katholische Kirche schon lange steht: den Umgang mit der Spannung zwischen modernen Lebenswelten und einer christlich-kirchlichen Lebensweise. Am deutlichsten belegen dies die Konflikte um die Rolle der Frauen in der Kirche oder der stille Exodus der Jugend. Vor allem der Wertewandel von Einstellungen zu Geschlecht und Sexualität bildet dabei den Brennpunkt. Laut der jüngsten World Values Study ist der Umgang mit Homosexuellen der maßgebliche Grund für eine weltweite Distanzierung junger Menschen von allen Religionen. So ist die jüngste Debatte zur Segnung Homosexueller für eine Mehrheit junger Menschen kaum noch nachvollziehbar.

"Die Erosion kirchlicher Religiosität wird rasant voranschreiten."

Gelingt es der katholischen Kirche in absehbarer Zeit nicht, diese Wertekonflikte – die längst auch im Inneren angekommen sind, wie die Kritik von Gläubigen und Bischöfen am vatikanischen Nein zu Segnungen für homosexuelle Paare zeigt – so zu bearbeiten, dass sie ihre Tradition im Horizont dieses Wertewandels und auf der Basis wissenschaftlicher Expertise weiterentwickelt, wird die Erosion kirchlicher Religiosität rasant voranschreiten.

Damit steht nicht weniger als das Überleben der christlichen Botschaft auf dem Spiel. Denn eine entinstitutionalisierte Religiosität wird gesellschaftlich und politisch bedeutungslos. Wesentliche christliche Inhalte verdunsten. Zu diesen gehört das Einstehen für den Schutz der Transzendenz des Menschen: seiner unantastbaren Würde, die durch Gott zugesagt ist und vor dem Zugriff durch weltliche Interessen bewahrt. Großkonzerne, die den Menschen auf seine Arbeitskraft reduzieren, der fragile rechtliche Schutz vulnerabler Gruppen wie zum Beispiel von Flüchtlingen an Europas Grenzen, ungeborenen und behinderten Kindern oder Sterbenden, Antisemitismus und Rassismus u. v. m. lassen die Bedrohung des Humanum erkennen. Um diese Entwicklungen zu benennen, ist die Stimme der katholischen Kirche unverzichtbar.

Würde des Menschen

Aber durch Dauerkonflikte rund um Fragen von Geschlecht und Sexualität geschwächt, verschärft durch die Missbrauchsskandale, verliert sie an Glaubwürdigkeit und trägt so selbst zur Erosion ihrer eigenen Bedeutung bei. Auch wenn sie nicht die Einzige ist, die sich für die Würde des Menschen einsetzt, ist dies fatal. Denn mit ihrem Bedeutungsschwund verliert die Gesellschaft eine Institution, die Motivationsquellen und Räume bereitstellt, sich für die Würde und den Schutz menschlichen Lebens einzusetzen.

Die Kirchen ringen gegenwärtig um ihren gesellschaftlichen Ort und mit der Frage, was sie von modernen Lebenswelten lernen müssen, um ihre Botschaft zu vermitteln.

"Der Dialog mit modernen Lebenswelten ist unverzichtbar."

Das bedeutet keinesfalls völlige Anpassung oder unkritisches Verstummen. Aber in Gesellschaften, in denen Religion massiv auf dem Prüfstand steht, ist der Dialog mit modernen Lebenswelten unverzichtbar. Die Türen dazu wären offen, da derzeit einige Länder in Europa die Kooperation mit Religionsgemeinschaften als zivilgesellschaftlichen Partnern im Einsatz für Menschenrechte und friedliches Zusammenleben fördern. Ambivalente Positionen zu Homosexuellen und Frauen irritieren diese Annäherung. Spannungen und Konflikte zwischen Religion und Moderne werden bleiben. Aber auf der Basis von Respekt und Selbstkritik wären diese dann "normal" und notwendig zur Weiterentwicklung beider. (Regina Polak, 4.4.2021)