Lidewij, genannt Li, Edelkoort ist die berühmteste Trendforscherin der Welt. Für die Zeit nach der Pandemie prophezeit sie eine goldene Ära.

Foto: Thirza Schaap

Gemütlich wirkt es in der Küche des Landhauses in der Normandie. Ein lichtdurchfluteter Raum, reduziert-rustikale Einrichtung mit viel Weißtönen und Holz. An dem massiven Tisch in der Mitte des Raums sitzt die berühmteste Trendforscherin der Welt, Lidewij Edelkoort. Den Kopf entspannt auf das Kinn gestützt, erzählt sie in ruhigem Ton von ihrer Arbeit.

Die lockere Stimmung wird aber immer wieder von einem Maunzen unterbrochen. Es ist ihre Katze, die rauswill. Edelkoort entschuldigt sich kurz, öffnet die Terrassentür. Das Tier verschwindet nach draußen, und seine Besitzerin kehrt wieder vor den Bildschirm zurück. Es handelt sich leider bloß um einen virtuellen Besuch. Aber auch der ist außergewöhnlich. Die 70-jährige Niederländerin gibt selten Interviews und schon gar nicht im privaten Umfeld.

Entschleunigung

Anlass für diese Ausnahme ist ihre neueste Kooperation mit Rado. Lidewij, genannt Li, Edelkoort hat für die Schweizer Uhrenmarke die True Thinline Stillness designt. Durch das Glas mit Frosteffekt und die weißen Zeiger auf weißem Untergrund bedarf es einer gewissen Bemühung, die Uhrzeit abzulesen. "Die Zeit, die man dafür aufwendet, entschleunigt den Moment", erklärt sie diese bewusste Designentscheidung.

Eine Pause einlegen, sich Zeit nehmen, die Zeit ausdehnen, wieder zu sich selbst zurückkehren seien auch wichtige Elemente ihres Trendforecasts für die Herbst-/Wintersaison 2021/22 gewesen. "Das war fast wie eine Vorhersage der Pandemie", sagt Edelkoort.

Als sie ihre Prognose vor über zwei Jahren ausformulierte, wusste noch niemand, dass wir bald tatsächlich eine Zwangspause einlegen und viel Zeit mit uns selbst verbringen werden. Oder hatte Li Edelkoort etwa eine Vorahnung? Nein, sagt sie. Aber als sie irgendwo Bilder aus der Zeit der Spanischen Grippe sah, hätte sie bemerkt, dass die bereits 100 Jahre her sei, und sich die Frage gestellt, was wohl passieren würde, wenn so eine Krankheit wieder auftauchte.

Auch die Trendprognose vor "Stillness" liest sich aus heutiger Sicht beinahe kassandrisch. In "Enlightenment" prognostizierte sie für 2019/20 unter anderem den Trend zu kulinarischem Genuss, filmischer Unterhaltung und Askese. Da fühlt man sich doch an den ersten Lockdown mit selbstgebackenem Bananenbrot und Netflix-Marathons erinnert. Wie schafft Li Edelkoort das?

Intuitives Puzzlespiel

Sie gehe mit offenen Augen durch die Welt und setze ihre Beobachtungen wie Puzzleteile zu einem großen Bild zusammen. "Es reicht nicht, den Finger in den Wind zu halten. Man muss auch interpretieren, visualisieren, schreiben und präsentieren können", erklärt sie ihren Job.

Die Niederländerin ist aber natürlich keine One-Woman-Show. 1980 gründete sie die Firma Trendunion mit Sitz in Paris, 1999 beziehungsweise 2008 folgten die Ableger Edelkoort Inc. in New York und Edelkoort East in Tokio. Außerdem ist sie mit Agenten auf der ganzen Welt von Brasilien über den Libanon bis nach Neuseeland vernetzt.

Herzstück in Li Edelkoorts Schaffen sind ihre Trendforecasts. Als in halbjährlich limitierter Auflage erscheinende Trendbücher verraten sie, was in zwei Jahren angesagt sein wird. Darüber hinaus gibt es auch noch Spezialpublikationen zu Beauty-, Farb- oder Einrichtungstrends sowie die kostenlose Social-Media-Plattform Trend Table.

Für mehrere Hundert Euro kann man an Seminaren zu Edelkoorts Forecasts teilnehmen. Firmen beauftragen sie auch gezielt für Projekte. Ihre bisherige Kundenliste liest sich wie das Who’s who der internationalen Markenwelt. Coca-Cola, Gucci, L’Oreal oder eben die Uhrenmarke Rado.

Prognosen stimmen nicht immer

Sind angesichts dieser Kaliber an Kunden und angesichts von Edelkoorts gutem Ruf ihre Prognosen nicht automatisch sich selbst erfüllende Prophezeiungen? "Ich wünschte, es wäre so, dass alle auf mich hören!", quittiert sie die Frage. Sie sei nur ein kleines Rädchen in Entscheidungsprozessen eines Unternehmens. Und nicht immer stimmen ihre Prognosen.

Für einen Kunden sollte sie in den 1970er-Jahren Trends im Bereich der Kurzwaren ausmachen. Dass damals plötzlich ethnisch anmutende Zöpfchen à la Bo Derek groß in Mode waren, hatte sie aber nicht vorhergesagt und wurde prompt gefeuert. Heute lacht sie darüber.

Lidewij Edelkoort ist die berühmteste Trendforscherin der Welt. Für die Zukunft sieht sie Weiß.
Foto: Rado

Weniger lustig hingegen fand die Bekleidungsindustrie Li Edelkoorts Trendforcast für 2016/2017, in dem sie die Mode für tot erklärte. Nun steckt die Branche heute tatsächlich in einer Krise, und immer mehr Menschen ist Nachhaltigkeit wichtig, doch von einem Untergang der schnelllebigen Mode kann keine Rede sein.

Intuition

Dafür heißt es immer, Trends gebe es keine mehr. "In der Mode stimmt das. Es ist immer dieselbe Kleidung. Was sich wirklich ändert, ist die Gesellschaft: soziale Konstrukte, Kulturen, Gender. Ich bin unsicher, ob ‚Trend‘ der richtige Begriff dafür ist, womit ich mich befasse. Meine Arbeit geht mehr in die Richtung von Sozialwissenschaft und Anthropologie", sagt Li Edelkoort.

Ihr wichtigstes Werkzeug mutet dabei wenig wissenschaftlich an: Intuition. Eine gute Trendforscherin brauche auch bodenlose Neugier sowie den Mut, die Vergangenheit zurückzulassen und neue Wege zu beschreiten.

Edelkoort habe aber früh gelernt, dass die wichtigste Fähigkeit sei, auf die eigene Intuition zu hören. "Bei mir wächst sie mit dem Alter sogar. Mein Bauchgefühl wird manchmal zu fast halluzinativen Wahrheiten. Es ist beinahe gruselig."

Goldener Neustart

Und was sagt ihr Bauchgefühl für die Zeit nach Corona voraus? Kurz vor Ausbruch der Pandemie inspirierte ein Stapel Papier in ihrem Büro Edelkoort zum Motto des Trendforecasts für 2022 "Blank Page". Eine leere Seite als Neustart für die Zeit nach Corona?

"Auch wenn einige zur Normalität zurückkehren wollen, gibt es viele, die eine grundlegende Veränderung wollen." Li Edelkoort sieht die Zeit der Pandemie als eine Art Sabbatical, in dem die Menschheit Zeit hat, alles zu überdenken. Das Virus sei nicht die Krise, sondern eine Lupe auf die Krise, in der die Gesellschaft steckt.

"Die Welt liegt in Scherben, wir müssen alles ändern. Wo wir leben, wie wir leben, wie wir arbeiten, wie und ob wir etwas herstellen. Ich bin neidisch auf die jüngere Generation, weil sie alles neu gestalten kann. Das ist gleichzeitig die größte Herausforderung überhaupt. Ein Redesign der Welt."

Trotz der Schwierigkeiten, die vor der Menschheit liegen, blickt Li Edelkoort aber leicht optimistisch in die Zukunft: "Ich nehme ein großes Bedürfnis nach Tanz wahr. Tanzröcke, Fransen, Fantasie werden relevant sein. Außerdem sehne mich auch nach der Farbe Gold. In der Vergangenheit hat sich oft gezeigt, wenn selbst ich als Person mit einem extrem minimalistischen Geschmack dieses Bedürfnis verspüre, wird es bald eine Art Explosion an Kreativität und Gold geben." (Michael Steingruber, RONDO, 9.4.2021)