Sonst auf der Seite des Kanzlers, beim Impfstoff aber "heute leider nicht": Dänemarks Premierministerin Mette Frederiksen.

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Sebastian Kurz ist im Augenblick der Buhmann Europas. Zumindest gilt das in der Lesart namentlich nicht genannter "hoher EU-Diplomaten", die auf der Brüsseler Infoplattform politico.eu oder in der Financial Times (FT) nach dem Scheitern einer Einigung aller 27 EU-Staaten auf einen Korrekturmechanismus zur Verteilung von Impfdosen an Nachzüglerstaaten zitiert werden.

Ein Blick zurück: Seinen Anfang nahm alles vor drei Wochen bei einer Pressekonferenz, die vom Bundeskanzleramt als Paukenschlag geplant worden war. Kurz hat damals einen angeblichen "Impfstoffbasar" in der EU konstatiert und eine Umverteilung gefordert.

Den Streit in der EU dazu hat er also gewissermaßen selbst angezettelt – wohl auch, weil sich Österreich selbst bei der Bestellung der Vakzine verzettelt und weniger Impfstoff der beiden Hersteller Biontech/Pfizer und Johnson & Johnson bestellt hatte, als möglich gewesen wäre. Und vielleicht auch aus innenpolitischen Gründen.

Extrakontingent

Kritik gab es damals zwar am Ton des Kanzlers, Zustimmung jedoch in der Sache. Die Verteilung sei, so wie sie sich darstellte, tatsächlich unfair, so die EU-Kommission. Sie schlug darauf vor, dass ein Extrakontingent von zehn Millionen Impfdosen von Pfizer/Biontech vorgezogen und so verteilt werden sollte, dass möglichst alle Staaten bis Sommer die Impfziele erreichen.

In dieser Berechnung hätte Österreich 400.000 Dosen bekommen. Ein Wert, den Kurz unter anderem in der ZiB 2 wiederholte. Kurz werde "nicht eine Impfdosis extra bekommen", betonten hingegen Tage später anonyme EU-Diplomaten in der Financial Times.

Vor diesem Hintergrund konsequent: Beim EU-Gipfel vor einer Woche konnte keine Einigung erzielt werden. Es wurde stattdessen tagelang verhandelt, die portugiesische Ratspräsidentschaft schlug schließlich vor, wenigstens drei der zehn Millionen Dosen an fünf osteuropäische und baltische Länder zu verteilen. Weil ihnen das zu wenig war, lehnten Österreich, Tschechien und Slowenien die Idee ab.

Am vergangenen Donnerstag nun also stattdessen eine andere Lösung: Die 24 übrigen EU-Staaten lösten den Vorschlag auf "technischem Weg" und an der EU-Kommission vorbei zwischenstaatlich: Die zehn Millionen Dosen werden nach dem "alten" Verteilungsschlüssel vergeben – also nach dem jeweiligen Bevölkerungsanteil. Aber 19 Staaten geben freiwillig 2,85 Millionen Dosen an Bulgarien, Lettland, Estland, die Slowakei und Kroatien ab, deren Lage damit etwas verbessert wird.

Nein-Sager bleiben außen vor

Die drei Nein-Sager bleiben außen vor. Sie erhalten die ihnen vertragsgemäß zustehenden Mengen: Für Österreich sind das mit knapp 199.000 Dosen um rund 60.000 mehr als im portugiesischen Kompromissvorschlag vorgesehen.

Tschechien hingegen ist der Verlierer. Das Land von Premier Andrej Babiš erhält nun 70.000 Dosen weniger, als es bei einem Kompromiss hätte bekommen können. Für Österreichs Nachbarland, das unter höchsten Infektionsraten leidet, ein harter Schlag.

Allerdings bekommt Prag von Österreich 30.000 Impfdosen auf bilateralem Weg. Man müsse den Nachbarn helfen, hieß es Freitag in einer Aussendung. Ein humanitärer Akt also, der Österreichs eigene Ausbeute aber auf 169.000 zusätzliche Dosen verringert.

Es ist eine Aktion, die dabei helfen könnte, einen Vorwurf zu entkräften, der seit der Pressekonferenz vor drei Wochen kursiert: Kurz sei "Anführer" einer Gruppe mit Tschechien, Slowenien, Kroatien, Bulgarien und Lettland, die das alles ausgelöst hat. Er steht am Pranger. Erst "solidarische Verteilung" fordern, wie der EU-Gipfel verlangte, und dann abseits stehen?

Was nun?

Der Kanzler habe das Interesse an "Solidarität", die er selbst eingefordert hatte, offenbar verloren, heißt es in der FT. "Wien hat die Auseinandersetzung verloren, hat das Wohlwollen verloren und hat mit seinen Possen Freunde verloren." Das werde man nicht so schnell vergessen.

Aus welchem Land der Diplomat stammt, dem das zugeschrieben wird, ist unklar. Aber es liegt auf der Hand, dass er aus einem jener Länder kommt, die sich am heftigsten gegen die Neuverteilung wehrten: Dänemark, die Niederlande und Deutschland.

Ob Kanzler Sebastian Kurz es sich langfristig mit den EU-Partnern verscherzt hat, ist noch offen. Vorerst gibt es aber durchaus Ärger.
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Sie profitierten bisher neben Malta und Zypern am meisten von den Fehlern der anderen, die 2020 beim Einkauf auf die falschen Pferde, sprich den Impfstoff von Astra Zeneca, setzten und wegen dessen Lieferproblemen in Schieflage gerieten.

Um solidarisch auszugleichen, müssen sie von den von ihnen bereits gekauften Impfstoffmengen etwas abgeben. Das tun sie auch, Deutschland etwa 500.000 Dosen, fast so viele wie Frankreich. Nach Vorstellung der Kommission, der EU-Zentralbehörde, hätten das noch mehr sein sollen. Präsidentin Ursula von der Leyen war ja der Meinung, dass zehn Millionen insgesamt für den Ausgleich angemessen wären.

Eigene Bevölkerung first

Aber die Kommission konnte sich nicht durchsetzen. Wenn es um nationale Interessen geht, ist den meisten Regierungschefs das Hemd oder die Bluse näher als die Jacke. Die dänische Premierministerin Mette Frederiksen, eine Sozialdemokratin, hat dies vor dem EU-Gipfel schnörkellos formuliert. Ihr Land werde Ende Mai durchgeimpft sein. Dann könnten die strikten Maßnahmen beendet werden.

Eine verständliche Haltung, die auch der liberale niederländische Premier Mark Rutte teilt: die eigene Bevölkerung first. Dass ausgerechnet Rutte und Frederiksen in Sachen Impfstoffverteilung – neben der Deutschen Angela Merkel – die härtesten Gegner von Kurz waren, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Im vergangenen Sommer war es beim Streit um den letztlich mit 750 Milliarden dotierten EU-Wiederaufbaufonds genau umgekehrt: Da kämpften der Niederländer und die Dänin noch mit dem Österreicher.

Beginnende Freundschaften

Ob Österreich wirklich langfristig beschädigt, Kurz isoliert ist, muss sich erst zeigen. Klar ist aber, dass der Kanzler – ganz anders als die meisten seiner Vorgänger – seinen Kopf sehr gezielt und bewusst weit rausstreckt. Jenseits des offiziellen Streits scheinen die Verbindungen auf höchsten Ebenen noch weiter zu bestehen. "Ich bin sonst ja gerne auf deiner Seite", simste Frederiksen an Kurz, "heute leider nicht."

Beim Impfstoff hören die Freundschaften auf, manchmal aber beginnen sie ebendort, wie auch die aktuelle Causa zeigt: Der Bulgare Bojko Borissow versicherte "ewige" Dankbarkeit. Viele osteuropäische Länder und auch Beitrittskandidaten auf dem Balkan freuen sich, dass eine traditionell dem Westen zugeordnete Regierung ihre Anliegen mitvertritt. Auch Tschechien drückte Dank aus, die baltischen Staaten zeigten sich erfreut.

Kurz steht eben für eine neue Generation von Politikern: Er wechselt die Partner in Europa und die Themen, wie er es braucht. Beim EU-Budget noch frugal, versuchte er zuletzt plötzlich den Eindruck zu erwecken, es könne gar nicht genug EU-Solidarität geben. Weil es aber zugleich auch nie genug Vakzin geben kann, macht Wien immer deutlicher, dass man zusätzlich in Russland kaufen will. (Manuel Escher, Thomas Mayer, 2.4.2021)