Es ist leicht, in der aktuellen Situation die Contenance zu verlieren.

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Der Internettroll, der in Foren und sozialen Medien anderen Menschen den Tod wünscht. Die Frau, die auf offener Straße Beleidigungen in ihr Handy brüllt. Die einst ach so guten "Freunde", die sich seit einem Jahr nicht mehr gemeldet haben – weil sie rückblickend doch keine Freunde waren, sondern bloß Saufkumpanen. Der Chef, der den wirtschaftlichen Druck ungefiltert auf seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ablädt. Menschen, die sich beim Impfen vordrängeln. Regierungschefs, die auf dem Rücken ihrer Bevölkerung politische Kleinkriege austragen.

Und auf der anderen Seite des Spektrums: Die Angestellten in der Teststraße, die meist nicht nur professionell arbeiten, sondern dabei auch freundlich bleiben. Die Hobbyprogrammierer, die dem Kleinstbetrieb ums Eck schon zu Beginn der Pandemie gratis einen Webshop gebaut haben. Die Menschen, die freiwillig für ihre älteren Nachbarn einkaufen gehen, um diese zu schützen. Und überhaupt: All jene, die in der Pflege und im Handel arbeiten und dort seit über einem Jahr einen überdurchschnittlichen Dienst an jener Gesellschaft leisten, die zuvor so oft herablassend über sie debattiert hatte.

Extreme Situationen bringen den wahren Charakter eines Menschen zum Vorschein, und zwar die besten ebenso wie die schlechtesten Eigenschaften. Das war schon bei vergangenen Krisen so, bei dieser Krise ist es nicht anders. Und freilich ist die Versuchung groß, dem Druck nachzugeben, der auf uns allen gerade lastet. Die Contenance zu verlieren und impulsiv zu handeln. Aber eines ist sicher: Auch diese Krise wird, wie so viele andere zuvor, vorbei gehen. Dann werden wir wieder gemeinsam im Lokal sitzen, auf Konzerte gehen, auf Urlaub fahren. Und in dieser neuen Normalität werden wir uns daran erinnern, wer sich in der Krise menschlich und sozial verhalten hat – und bei wem das nicht der Fall war. (Stefan Mey, 5.4.2021)