Drei Monate nach dem endgültigen Ausscheiden Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt kommt der Brexit in der öffentlichen Diskussion nur noch am Rande vor. Natürlich – hier wie auf der Nachbarinsel Irland und auf dem Kontinent – bleibt die Covid-Pandemie mit all ihren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen das alles beherrschende Thema.

Eindrucksvolle Zahlen belegen schon jetzt die Abkoppelung des Königreichs vom größten Wirtschaftsraum der Welt. Welcher Anteil davon entfällt auf die fünf Jahre zurückliegende Entscheidung des Wahlvolkes und ihre Interpretation durch die konservative Regierung – und was ist Sars-CoV-2 geschuldet? "Wir haben keine wirkliche Antwort", sagt Thomas Sampson, Professor an der London School of Economics (LSE). "Wir wissen nur: Da ist etwas Einschneidendes passiert."

Beim Vertrag über die zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen beharrte London vor Weihnachten auf größtmöglicher Distanz zu Brüssel. Abgeschlossen wurde eine enge Vereinbarung für den Güterverkehr. Dienstleistungen wie beispielsweise die Arbeit von Bankern, Tradern und Anwälten in der City of London, dem größten internationalen Bankenzentrum der Welt, kamen darin gar nicht vor. Dabei machen diese insgesamt 80 Prozent der britischen Volkswirtschaft aus.

Neue Hürden

Seither behandelt die EU das Ex-Mitglied als angrenzenden Drittstaat; der florierende (und für Mitgliedsstaaten wie Deutschland extrem lukrative) Handel im Warenverkehr wird durch vielfältige Bürokratie und neue Gebühren behindert. Die Folge: Im Jänner gingen britische Exporte in den Binnenmarkt, verglichen mit Jänner 2020, um 40 Prozent zurück. Bei den gerade für die Lebensmittelversorgung der Briten lebenswichtigen Importen bleibt der Effekt begrenzt, weil die Londoner Regierung die Einführung des neuen Zoll- und Steuerregimes kurzerhand bis Juli ausgesetzt hat.

Der einst florierende Handel im Warenverkehr mit EU-Mitgliedsländern wird durch die nun notwendig gewordene Bürokratie und durch Gebühren behindert.
Foto: AFP / Paul Faith

Um die politisch stark umstrittenen wirtschaftlichen Folgen des Brexits seriös beziffern zu können, hat der EU-nahe Londoner Thinktank Centre for European Reform (CER) bald nach dem Referendum im Juni 2016 einen Doppelgänger der britischen Wirtschaft ersonnen.

Bis zu diesem Zeitpunkt war die Entwicklung auf der Insel vergleichbar gewesen mit einem Quartett befreundeter Industriestaaten: den USA, Kanada, Neuseeland und Deutschland. "Im Lauf der Zeit wird uns diese Modellrechnung eine Aussage darüber erlauben, wie stark Großbritanniens Handel vom Brexit betroffen war", erläuterte CER-Vizedirektor John Springford kürzlich in einem LSE-Webinar. Fest steht schon jetzt: Das Bruttoinlandsprodukt des echten Landes lag in den vergangenen Jahren gegenüber dem fiktiven Doppelgänger bereits um drei Prozent niedriger, obwohl das Königreich in dieser Zeit Binnenmarkt und Zollunion noch angehörte.

Schwieriger Übergang

Die Regierung von Premier Boris Johnson begegnet der Kritik an ihrer Brexit-Begeisterung mit zwei Argumenten: einerseits dem Covid-Effekt, andererseits dem notwendigerweise schwierigen Übergang nach 48-jähriger Zugehörigkeit zum europäischen Wirtschaftsraum.

Die Folgen des EU-Austritts, heißt es zum Ersten, seien vernachlässigbar im Vergleich mit dem massiven Covid-Effekt. 2020 schrumpfte die Wirtschaft der nationalen Statistikbehörde ONS zufolge um 9,8 Prozent, auch in diesem Jahr steht die Erholung noch aus. Zwar sind inzwischen auf der Insel mehr als 30 Millionen Menschen mindestens einmal gegen Sars-CoV-2 geimpft, 45,5 Prozent der gesamten Bevölkerung. Doch weiterhin gilt die Aufforderung der Regierung, Arbeiten im Homeoffice zu verrichten.

Im weitaus größten Landesteil England bleiben Pubs und Restaurants sowie der Einzelhandel bis Anfang nächster Woche geschlossen – Gift für die Volkswirtschaft.

Mit Blick auf den Brexit verwenden Regierungsvertreter, zum Zweiten, gern den Begriff der "teething problems", wörtlich: Probleme beim Zahnen, also Kinderkrankheiten. Medien vom linksliberalen Guardian bis zur konservativen Sunday Times aber liefern immer neue Beispiele für langfristige Probleme. Für viele auf reibungslosen Handel angewiesene Firmen mit Zehntausenden von Mitarbeitern fühlt es sich längst wie dauerhafte Zahnschmerzen an, was ihnen im Alltag begegnet.

Beim Vertrag über die zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen beharrte London auf größtmöglicher Distanz zu Brüssel. Abgeschlossen wurde eine enge Vereinbarung für den Güterverkehr. Dienstleistungen wie beispielsweise die Arbeit von Bankern in der City of London kamen darin gar nicht vor.
Foto: EPA/ANDY RAIN

Beispiel Fisch: Wie für andere Drittstaaten verlangt Brüssel nun auch von britischen Fischern vor der Einfuhr die Reinigung ihrer Produkte. Dadurch ist der lukrative Export von Muscheln und Austern aus britischen Küstengewässern praktisch zum Erliegen gekommen – ganz gegen die Erwartungen der Branche, die mehrheitlich den Brexit enthusiastisch unterstützt hatte. Die Regierung habe ihm und seinen Kollegen ungehinderten Zugang zum Binnenmarkt versprochen, hat John Holmyard von Offshore Shellfish in Brixham (Grafschaft Devon) der BBC berichtet. "Das galt sogar im Fall eines No-Deal-Brexits", also eines chaotischen EU-Austritts ohne jede Anschlussvereinbarung.

Konfrontiert mit der Realität schieben die Londoner Brexiteers der Europäischen Union die Schuld in die Schuhe. Brüssels Vorgehen sei "unvertretbar und unnötig", schimpft Landwirtschaftsminister George Eustice. Premier Johnson hat die Briten zum patriotischen Verzehr heimischer Produkte aufgefordert. Darüber kann der "total gestresste" Fischer Holmyard nur müde lächeln: "Wir haben 95 Prozent unserer Ware auf den Kontinent geliefert. Das gleicht der heimische Markt nicht aus."

Beispiel Importe: Das Perückenstudio Rivelli Capelli in Nottingham importierte bisher völlig reibungslos den Großteil seiner Ware aus Deutschland. Die Kundschaft besteht überwiegend aus Krebspatienten, denen eine Chemotherapie die Haare raubt, berichtet Mitbesitzer Iain Brooks, nach dessen Ehemann Michael Rivelli der Salon benannt ist. "Es ist ein schwieriges Thema, viele Leute wollen nicht gern darüber nachdenken." Gerade deshalb waren kurze Lieferfristen binnen weniger Tage so angenehm.

Gestiegene Kosten

Inzwischen dauert eine Lieferung aus Frankfurt nicht nur mindestens zwei, häufig sogar vier Wochen; sie kostet auch 15 Prozent mehr. Das hat mit den Zusatzkosten für Personal und Bürokratie zu tun: Ein neues Zahlungsformular sowie die Papiere für alle Zollformalitäten müssen ordnungsgemäß ausgefüllt werden, die Benachrichtigung und Vorab-Bezahlung des Kurierdienstes kostet zusätzlich Zeit.

Beispiel Exporte: Frog Bikes im walisischen Pontypool verkauft seine Kinderräder in 22 EU-Mitgliedsstaaten. Schon sind die Preise um 19 Prozent gestiegen – Folge der enormen Zusatzkosten von umgerechnet rund 294.000 Euro, die dem kleinen Unternehmen mit einem Umsatz von 14,1 Millionen Euro allein in den ersten beiden Monaten des neuen Jahres entstanden sind. "Das sind keine Kinderkrankheiten", ärgert sich Firmeninhaber Jerry Lawson. "Hier gibt es ein Strukturproblem und bisher keine Lösung." (Sebastian Borger, 6.4.2021)