In der Serie alles gut? denkt STANDARD-Redakteur Andreas Sator über eine bessere Welt nach – und darüber, welchen Beitrag er leisten kann. Melden Sie sich hier für seinen kostenlosen Newsletter an.

Foto: imago stock&people

Sie können das Wort Krise nicht mehr hören? Ich auch nicht. Aber es hilft trotzdem nichts: Wenn man sich in den Zustand der Natur in den verschiedensten Teilen der Welt einliest, kann man dieses Wort leider nicht vermeiden. Aus einer Reihe an Studien und Berichten lassen sich zehn Lehren ableiten, die ich wie folgt gegliedert habe: Punkt eins bis drei zeigen den Status quo, vier bis sechs die Verursacher der Krise und die Punkte sieben bis zehn, warum Ihnen das alles nicht egal sein sollte. Legen wir los.

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Das Sterben von Insekten betrifft uns alle.
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1. Das große Sterben. Von geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten sind etwa eine Million vom Aussterben bedroht, viele innerhalb der nächsten Jahrzehnte. Mehr als 40 Prozent der Amphibien, etwa Frösche, und knapp ein Drittel der Haie gelten als gefährdet. 20 Prozent der Pflanzenarten könnten in den nächsten Jahrzehnten aussterben, bis 2100 sogar 40 Prozent. Der Living Planet Index des WWF zeigt, dass die Population, also die gesamte Zahl der Tiere einer Art, bei Spezies, die an Land leben, seit 1970 um 40 Prozent gesunken ist, bei jenen in Süßwasser um 84 Prozent und im Ozean um 35 Prozent.

(Quelle: IPBES 2019, DasGupta Review 2021)

2. Das Insektensterben. Drei Viertel der Arten der Welt sind Insekten. Von Wissenschaftern wird geschätzt, dass etwa zehn Prozent von ihnen gefährdet sind. In Österreich gibt es etwa 40.000 Insektenarten, die meisten davon sind Käfer, Hautflügler (zum Beispiel Wespen oder Ameisen) und Fliegen. Aktuelle Studien zeigen in Mitteleuropa Rückgänge der Populationen um fünf Prozent pro Jahr, und das besorgt die Wissenschafterinnen massiv.

Hierzulande ist die Studienlage dünn, um für das ganze Land Aussagen zu treffen. Lokale Studien und rote Listen legen aber nahe, dass auch in Österreich ein Insektensterben stattfindet. Fänge aus einer Lichtfalle in Theresienfeld zeigen einen Rückgang der gefangenen Schmetterlinge von 6.600 (1963) auf 1.400 (1998). Treiber sind der Verlust an Lebensraum, der Klimawandel, Insektizide in der Landwirtschaft, Lichtverschmutzung und fremde Arten.

(Quelle: Umweltbundesamt 2020, IPBES 2019)

3. Sehen wir das sechste Massensterben? Noch nicht, aber das Tempo kommt hin. In der Erdgeschichte gab es bisher fünf Episoden, bei denen mindestens 75 Prozent der Arten ausgestorben sind. Bei Vögeln, Säugetieren und Amphibien sind die aktuellen Aussterberaten schneller als bei den sogenannten big five. Wenn die bereits jetzt gefährdeten Arten in den nächsten 100 Jahren aussterben und das so weitergeht, könnte das sechste Massensterben binnen weniger Jahrhunderte vollzogen sein.

Der perfekte Sturm, der auch zu den big five geführt hat, ist wieder da: schnelle klimatische Veränderungen, viel CO2 in der Atmosphäre und hoher ökologischer Stress, dieses Mal durch den Menschen. Beim letzten Massensterben vor 65 Millionen Jahren, als die Dinosaurier ausgestorben sind, war der Stressfaktor noch ein Komet, der auf Yucatán einschlug.

(Quelle: Barnonsky et al. 2011)

Im Amazonas brennt der Hut: Der Regenwald steht vor einem Kipppunkt.
Foto: afp / NELSON ALMEIDA

4. Tieren und Pflanzen geht der Platz aus. Der Verlust an Lebensraum ist der größte Treiber des weltweiten Naturverfalls. Dafür verantwortlich sind zum Großteil die Land- und Forstwirtschaft und die Urbanisierung. 77 Prozent der Agrarfläche der Welt nehmen Tiere und ihr Futter in Anspruch. In den Tropen, dem Hotspot der natürlichen Vielfalt, schreitet der Verlust an Lebensraum am stärksten voran. Zwischen 1980 und 2000 gingen 100 Millionen Hektar an tropischen Wäldern verloren.

42 Millionen davon gehen auf die Kappe der Viehwirtschaft in Lateinamerika. Für 7,5 Millionen Hektar sind Plantagen in Südostasien verantwortlich, der Großteil davon produziert Palmöl. Das hört nicht auf, im Gegenteil: Zwischen 2010 und 2015 gingen noch einmal 32 Millionen Hektar an Tropenwald verloren. Seit 1992 hat sich die Fläche der Städte der Welt verdoppelt.

(Quelle: IPBES 2019, DasGupta Review 2021)

5. Immer mehr Menschen konsumieren immer mehr. Wir entnehmen der Natur jedes Jahr 60 Milliarden Tonnen an Ressourcen. Das hat sich seit 1980 nahezu verdoppelt. Die Zahl der Menschen auf der Welt ist seither um etwa 70 Prozent gestiegen. Der Pro-Kopf-Konsum ist um 15 Prozent gestiegen. Der Ausstoß an Treibhausgasen hat sich verdoppelt. Die Plastikverschmutzung in Ozeanen hat sich verzehnfacht. 80 Prozent des globalen Abwassers gehen unbehandelt in die Natur. 300 bis 400 Millionen Tonnen Schwermetalle landen jedes Jahr in Wasser, das auch Lebensraum ist. Der Fischfang hat sich seit 1950 vervierfacht. 33 Prozent der Fischarten gelten als "übernutzt". Überfischung ist Grund Nummer eins für die Biodiversitätsprobleme in den Weltmeeren.

(Quelle: IPBES 2019, DasGupta Review 2021)

6. Die Natur hat ein Problem mit Märkten. Die Marktwirtschaft hat viele Menschen aus der Armut geholt. Aber mit der Natur hat sie, wenn sie nicht gut reguliert wird, ein Problem. Denn sie ist mobil, leise und unsichtbar. Vögel und Insekten fliegen, und Flüsse fließen. Eigentumsrechte sind daher eher schwierig. Wenn Milliarden Mikroorganismen im Boden durch einen Pflug geschädigt werden, können sie sich schwer beschweren. Wer in den Weltmeeren fischt, die uns allen gehören, zahlt dafür nichts. CO2 lässt sich großteils gratis ausstoßen.

Negative Externalitäten sind überall. So nennen Ökonomen das, wenn der Nutzen für den Einzelnen im Preis enthalten ist, aber der Schaden für die Allgemeinheit nicht. Das lässt sich politisch durch saftige Steuern ausgleichen. Im Moment tut die Politik aber das Gegenteil. Sie fördert kontraproduktives Verhalten. Die OECD schätzt, dass auf der Welt 500 Milliarden Dollar an Förderungen existieren, die schlecht für Biodiversität sind. Rechnet man indirekte mit (also Externalitäten), sind es vier bis sechs Billionen Dollar.

So wird etwa Intensivlandwirtschaft, aber auch fossile Energie nach wie vor stark gefördert. Oft subventionieren arme Leute die Reichsten: Weil ärmere Länder hauptsächlich Rohstoffe exportieren und der Schaden für die Natur im Endprodukt, etwa meinem iPhone, nicht eingepreist ist.

(Quelle: DasGupta Review 2021)

Unterschätzt: Spatzen.
Foto: APA/DPA/FELIX KÄSTLE

7. Warum ist das alles ein Problem? Weil die Natur unsere Lebensgrundlage ist. Wasser, Luft und gesunde Böden sind für den Menschen existenziell, und in der Natur hängt alles mit allem zusammen. Wenn Insekten weniger werden, haben Vögel weniger zu fressen, und dann gibt es auch weniger Vögel. Schädlinge haben dann womöglich weniger Feinde. Ein Beispiel aus der Geschichte Chinas: Mao Zedong hat versucht, die Spatzen im Land auszurotten, weil sie angebaute Samen fressen. Was Mao nicht bedachte: Ihr Hauptnahrungsmittel waren Heuschrecken. Daraufhin gab es eine fatale Heuschreckenplage im Land.

Die Natur ist komplex, und auch wenn man sie besser versteht als Mao Zedong, durchblicken wir noch bei weitem nicht, was viele Millionen Jahre Evolution an miteinander verbundenen Ökosystemen geschaffen haben. Es ist ratsam, nicht auszuprobieren, was auf der Welt los ist, wenn es hunderttausende oder Millionen weniger Arten gibt. Weil die Natur die Grundlage unserer Existenz ist, ist die Biodiversitätskrise eine existenzielle Krise für den Menschen. Dazu kommt: Die Natur selbst hat einen Wert, auch für Menschen, spirituell und gesundheitlich.

8. Tragödien kommen schon viel früher. Wir müssen aber nicht ein paar hunderte Jahre so weitermachen wie bisher, um zu schauen, welche Katastrophen entstehen. Einige können wir live miterleben. Die Abholzung des Amazonas könnte etwa bald dazu führen, dass ein Kipppunkt erreicht ist. Der Regenwald versorgt sich selbst mit der Hälfte des Regens. Er holt sich Feuchtigkeit vom Atlantik und recycelt sie fünf- bis sechsmal. Wenn er eine gewisse Größe unterschreitet, geht das nicht mehr – und er wird unumkehrbar zur Savanne. Das wäre eine Katastrophe für viele Bewohner, Pflanzen und Tiere, aber auch für die Menschheit an sich. Auch die Hälfte der weltweiten Korallenriffe ist bereits seit 1870 verloren gegangen.

(Quelle: IPBES 2019, DasGupta Review 2021)

9. Die Natur ist hochproduktiv. Ein Drittel der Lebensmittel gäbe es ohne Bestäuber wie Bienen, Vögel oder Fledermäuse nicht. Viele Obst- und Gemüsesorten und Nüsse brauchen tierische Hilfe, um Pollen von einer Pflanze zur nächsten zu bringen. Ökonomen haben das auch in Zahlen gemessen. Ohne Bestäuber würde die Landwirtschaft 500 Milliarden Dollar an Output verlieren – im Jahr. Das ist quasi der Zins der Natur. Rechnet man das in einen Vermögenswert um, sind das 14 Billionen Dollar, was 75 Prozent der Wirtschaftsleistung der USA entspricht. Wälder sind nicht nur Lebensräume und produzieren Sauerstoff, sie entnehmen der Luft auch CO2. Das ist im Kampf gegen die Klimakrise sehr viel wert. Je nach CO2-Preis von 8,5 Billionen Dollar (CO2-Preis: 35 Dollar) bis zu 100 Billionen Dollar (CO2-Preis: 600 Dollar).

(Quelle: Heal 2020)

10. Eine bunte Natur ist eine Versicherung. Der Wirkstoff in Aspirin kommt aus der Rinde eines Weidenbaums. Das wird seit Jahrhunderten genutzt. Sogar Gorillas essen die Rinde, wenn sie krank sind. Heute stellt der Pharmariese Bayer das Medikament synthetisch her und braucht dafür keine Rinde mehr. Aber ohne Natur hätten wir das Mittel wohl nicht entdeckt. Das ist keine exotische Anekdote. 70 Prozent der Krebsmedikamente kommen aus der Natur oder sind von ihr inspiriert. Eine Blume in Madagaskar war Quelle für ein Medikament gegen Kinderleukämie.

Auch in der Landwirtschaft hilft genetische Vielfalt: In Asien hat ein Virus die Reisernte um bis zu ein Drittel reduziert. Forscherinnen fanden dann eine verwandte Reisart, die gegen das Virus resistent war. Sinkt die Biodiversität, dann stirbt damit nicht nur eine Pflanze oder ein Tier für immer aus, es geht auch viel an Informationen verloren. In einer Welt, in der Temperaturen und Unwetter dramatisch zunehmen, ist das keine gute Idee.

(Quelle: Heal 2020)

Sind Sie jetzt frustriert? Dann geht es Ihnen wie mir. Das muss aber nicht so bleiben, denn der Großteil der Biodiversität ist noch zu retten – und dafür gibt es zahlreiche Vorschläge. Die lesen Sie dann im nächsten Beitrag dieser Serie. Sie können sich hier für den Newsletter anmelden, er ist kostenlos. Sie bekommen eine Mail, wenn der nächste Beitrag erscheint.

(Andreas Sator, 11.4.2021)