Bettina Pausch versorgt derzeit ein benachbartes Paar mit Einkäufen: "Helfen macht uns zu Menschen!"

Foto: Christian Fischer

Manche Geschichten werden zu selten erzählt. Dabei wären sie wichtig: "Gute" Geschichten, die Mut machen, braucht man. Gerade in dunklen Zeiten. Weil sie – allgemein – illustrieren, dass die "Zivilgesellschaft" nicht bloß ein NGO-Schlagwort ist, sondern tatsächlich funktioniert. Ganz von selbst.

Und weil es – im Konkreten – guttut, das zu wissen, wenn der Bescheid "positiv" plötzlich über einen (oder eine) hereinbricht – mit allen Ängsten und Sorgen. Zu wissen, dass die Welt – im Kleinen – besser ist als ihr Ruf, hilft. Zu wissen, dass Nachbarn auch im anonymen "Bau" Nachbarn sind. Dass es Freunde nicht nur auf Facebook gibt. Dass Familie, wenn es zählt, funktioniert. Weil Blut nicht nur dicker als Wasser, sondern auch stärker als die Angst vor dem Virus ist.

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Wer bringt den Müll raus?

Es geht nicht bloß ums hübsche Narrativ. Sondern um den Umgang mit den angeblich "kleinen" Sorgen. Die poppen nämlich jetzt auf – und werden groß: Wer geht für einen einkaufen? Wer holt den Müll? Wie kommt die Post vom Briefkasten zur Wohnung, während man selbst – egal ob symptomlos, krank oder als Kontaktperson – in Heimquarantäne sitzt? Das ist keineswegs banal. Aber diese Probleme haben auch etwas Gutes: Sie sind lösbar – und die Art, wie sie derzeit grosso modo gelöst werden, ist eine "Schöngeschichte". Der Haken: Da sie sich meist ohne "amtliches", institutionalisiertes Zutun im Kleinen abspielt, wird sie nie erzählt.

Dabei erzählen Menschen, die schon in Quarantäne waren, gerne über diese Facette von Corona. Sylvia Toman etwa. Die Wienerin war vergangenen März unter den Ersten, die "es" erwischte: Nach einem Skiwochenende in Schladming begann es bei ihr und ihren fünf Freundinnen mit grippeähnlichen Symptome. Dabei blieb es nicht: Tomans Geruchssinn ist geschädigt. Die Quarantäne war "richtig, aber trotzdem ein Riesenschock: Plötzlich bist du allein. Tür zu – du bist weg." Corona war noch "neu": "Alle waren überfordert. Man hat uns nicht wie Menschen, sondern wie Probleme behandelt." Das Wording, so die Pädagogin, sei symptomatisch: "Der Begriff ‚Absonderung‘ ist ein Tritt in den Magen." Wie es ihr gehe, ob sie nichtmedizinische Hilfe brauche? "Man hat nicht mal gefragt."

Umso überraschter war Toman darüber, was auf nichtamtlicher Ebene geschah: "Alle waren da. Ganz von selbst: Verwandte, Freunde, Nachbarn." Diese Erfahrung, dieses Gefühl, vom Umfeld aufgefangen zu werden, zählt – und bleibt: "Ja, das Netz hält. Es funktioniert. Dieses Gefühl bleibt, es ist ein Silberstreif, der lange strahlt", erinnert sich Nadine Bösch an die zwei Wochen, die sie mit Mann und zwei kleinen Kindern im November in Neubau kaserniert war – obwohl die Zeit natürlich "mühsam, zäh und auch angstvoll" gewesen sei.

Was werde ich essen?

Umso wichtiger, dass Ämter und Behörden dank der Routine mittlerweile auch Spielraum für Empathie gefunden haben dürften: "Alle waren superfreundlich – nur ändert das nichts daran, dass du zunächst in ein schwarzes Loch fällst", sagt Angelika A. Als sie im Februar mit dem positiven Befund heim nach Favoriten fuhr, habe sie "reflexartig Brot gekauft – und ständig überlegt: Was hab ich daheim? Was werden wir zehn Tage essen? Das war alles so unwirklich." In der Infomail der Stadt seien neben medizinischen auch psychologische Anlaufstellen, Alltagshandlungsanleitungen und ein Verweis auf das von der Stadt mit der Rewe-Gruppe koordinierte Zustellservice vom Billa gestanden. "Nur nimmt man das Nichtmedizinische im ersten Schock gar nicht so wahr." Was aber sofort – und nachhaltig – geholfen habe: "Sämtliche Sport-, Schul- und sonstigen Whatsapp-Gruppen waren plötzlich Quarantäne-Versorgungsnetzwerke."

Nicht nur virtuell, ergänzt Sylvia Toman. Derzeit sind ihr Sohn und dessen Frau in Quarantäne: "Er sagt, dass ihn das an den Nikolo erinnert: Es raschelt vor der Tür. Und wenn man dann aufmacht, ist niemand da – nur ein Sack mit Lebensmitteln."

Diese Beispiele sind willkürlich gewählt, repräsentativ dürften sie dennoch sein: "Niemand wird zurückgelassen" mag aus Politikermund zur Hohlphrase verkommen sein, in der "Echtwelt" gilt der Satz. Das bestätigen Stadt Wien, Rotes Kreuz und Caritas unisono: "Die Versorgung der Menschen in Quarantäne war zu Beginn der Pandemie eine unserer großen Sorgen", sagt die Amtsärztin Ursula Karnthaler. Wiens medizinische Covid-19-"Projekleiterin" ist hörbar erleichtert, dass "das wirklich gut funktioniert": Obwohl in Wien (Stand: Gründonnerstag) rund 20.000 Menschen in Heimquarantäne sind, gehen bei den Hotlines von Stadt, Rotem Kreuz, Caritas und Co kaum Versorgungsanfragen ein. Im März des Vorjahres waren es allein beim Roten Kreuz täglich über 50, erklärt Monika Stickler, die Leiterin der psychosozialen Betreuung. Derzeit sind es sechs bis acht. "Es sind Kleinigkeiten, die zu Problemen werden: Wer geht mit dem Hund runter?"

Niemand bleibt zurück

Gerade in solchen Fällen machen sich Datenbanken wie das vom Roten Kreuz und Ö3 2007 eingerichtete "Team Österreich" bezahlt: Zu den österreichweit 25.000 Freiwilligen kamen im Vorjahr noch einmal 27.000 Personen dazu, die Hilfspotenziale eingaben: Einkaufen-gehen-Können ist nicht lächerlich. Auf Anfrage wird regional "gematcht" – und oft geschmunzelt. Etwa dann, wenn, wie in einem Fall in Hietzing, (hier: Einkaufs-)Hilfsbedürftige und Helfer im gleichen Haus wohnen und einander sogar kennen.

Die "Pointe" ist ein roter Faden vieler Quarantäne-Erzählungen: Die Scheu, Hilfe bei Dritten – und nicht bei Institutionen – zu erbitten, dürfte tief sitzen. Das bestätigt auch Bettina Pausch: Die Wienerin versorgt derzeit ein Paar, das ein paar Häuserblocks entfernt in Heimquarantäne sitzt. "Wenn ich einkaufen geh, sagen sie meist ‚nur Brot‘. Sie wollen niemandem zur Last fallen. Das tun sie eh nicht: Ich kauf und koch halt ein bisserl mehr, als ich selbst brauch – und sie freuen sich." Gebeten wurde Pausch nicht. Wieso sie trotzdem täglich kommt? "Weil helfen selbstverständlich ist. Es macht uns zu Menschen." (Tom Rottenberg, 6.4.2021)