Sprachsoziologin Ruth Wodak erinnert in ihrem Gastkommentar an die Aussage des Bundespräsidenten angesichts des Ibiza-Videos, wonach wir anders seien. Aufgrund der aufgetauchten Chats der ÖVP, fragt sie sich aber, "wer heutzutage noch zu dieser Wir-Gruppe gehört?"

Am 23. Mai 2019 wandte sich Bundespräsident Alexander Van der Bellen an die Österreicher und Österreicherinnen und an alle, die hier leben, und konstatierte: "So sind wir nicht!" Gemeint war, im Kontext des eben publik gewordenen Ibiza-Videos, dass "wir", nämlich die Österreicher und Österreicherinnen und alle, die hier leben, nicht so seien, wie Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus (und die von ihnen repräsentierte FPÖ).

Kanzler Sebastian Kurz beim Bundespräsidenten: Wie oft wurde nach dem Auftauchen des Ibiza-Videos nicht beschworen, dass "wir" anders seien. Die Chats aus der ÖVP zeichnen nun ein ernüchterndes Bild.
Foto: Christian Fischer

"Wir" würden nicht versuchen, die wichtigsten Medien der Republik einzukaufen; "wir" würden auch nicht nur loyale Parteifreunde an die Futtertröge heranlassen und andere ausschließen. Der Satz von Strache im Ibiza-Video "Novomatic zahlt alle" ist ebenfalls in Erinnerung geblieben. "Wir" sind also anders.

Die Linguistik unterscheidet signifikant unterschiedliche Bedeutungen, die das Pronomen "wir" tragen kann. Das Sprecher-inklusive "wir" vereinnahmt alle Angesprochenen, auch den Sprecher oder die Sprecherin. Das Sprecher-exklusive "wir" spricht hingegen nur manche an, ohne die sprechende Person. Auch andere Formen des "wir" gibt es, wie das paternalistische "wir", das Eltern oft an ihre Kinder richten ("Gehen wir jetzt schlafen?"), den Pluralis Majestatis, den Majestätsplural, und den Pluralis Modestiae, den Autorenplural, die beide nur scheinbar eine zweite Person einschließen. Van der Bellen schloss allerdings alle Personen ein, die sich weiterhin an die traditionellen Konventionen einer liberalen demokratischen Politik halten wollten und wollen: nicht korrupt, nicht käuflich und nicht von reichen Oligarchennichten verführbar.

Die liebe Familie

Nach den Ereignissen der letzten Tage und Wochen frage ich mich allerdings, wer heutzutage noch zu dieser Wir-Gruppe gehört? Denn – so liest man in den veröffentlichten Chatprotokollen der höchsten "Würden"träger der Republik – jetzt geht es nicht mehr um fantasierte mögliche Geschäfte; jetzt handelt es sich um tatsächlich durchgeführte Geschäfte einer "Familie." Eine kleine "Familie" beherrscht also die Republik, teilt Posten untereinander auf, informiert einander über mögliche Gefahren, ist weithin vernetzt und befreundet, interveniert erfolgreich bei manchen Medien und droht mit Nachteilen, falls Kritik laut wird.

Sind "wir" alle schon so an diese Politikspiele gewöhnt, dass dies "normal" ist?

Der Skandalisierung versucht man geschickt vorzubeugen, indem immer wieder die Strategie der "toten Katze" gefahren wird: Wenn es unangenehm wird, wirft man – metaphorisch gesprochen – eine "tote Katze" auf den Tisch und versucht damit vom Skandal abzulenken. Etwa mit Angriffen auf "die EU", auf ein "rotes Netzwerk in der Justiz", auf "das Kopftuch" muslimischer Volksschülerinnen oder auf "Silberstein". Auch Sputnik V und der russische Botschafter werden bemüht. Diese Strategie war bislang recht erfolgreich.

Bleibt diese Gruppe nun in das kollektive "wir" eingeschlossen? Sind "wir" alle schon so an diese Politikspiele gewöhnt, dass dies "normal" ist? Oder dann normal, wenn der türkise Mainstream der Politik sich so verhält? Ist ein solches schamloses Spiel mit dem "Silber der Republik" normal? Sind Falschaussagen vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss "normal"?

Der Einblick in die Backstage-Politik der türkisen "Familie" überrascht (zu) viele nicht: "Es war ja immer schon so!", lautet das verniedlichende und verharmlosendeArgument. Oder: "Es war halt ‚ungeschickt‘" (nämlich alles zu verschriftlichen).

Warten auf Klärung

Schon vor Ibiza war uns von der sogenannten Neuen ÖVP ein anderer, eben neuer Stil versprochen worden; eine transparente Politik ohne Postenschacher. Erst recht nach Ibiza! Und schon gar bei einer Regierungskoalition mit den Grünen, einer Partei, die sich – so dachten wir – den Menschenrechten, der Transparenz, der Unabhängigkeit der Medien und der Justiz und einer kompetenten Politik verschrieben hatte. Ich warte daher ungeduldig auf Klärung: Wer sind "wir", die nicht "so" sind? Oder sind "wir" in einer "neuen Normalität" angekommen, in der – einen Satz des bekannten Philosophen Paul Feyerabend übernehmend – gilt: "Anything goes"? Zu einer solchen Wir-Gruppe gehöre ich jedenfalls nicht. (Ruth Wodak, 7.4.2021)