Am Dienstag wurde ein junger Tiroler zu 20 Jahren Haft verurteilt – er hatte seine beiden Töchter "aus Überforderung" getötet

Es war ein Burn-out und das Gefühl, keinen anderen Ausweg zu haben: Das war laut einem psychiatrischen Gutachten der Auslöser dafür, dass ein junger Familienvater aus Tirol Ende Dezember seine beiden Kinder tötete. Am Dienstag wurde er zu 20 Jahren Haft verurteilt. Der Fachbegriff für das Töten des eigenen Kindes lautet "Filizid". Jeder derartige Fall, der an die Öffentlichkeit kommt, macht betroffen – und löst Unverständnis aus: Was bringt eine Mutter, einen Vater dazu, das eigene Kind zu töten? Was muss in dem Menschen vorgegangen sein? Und hat niemand die Zeichen gesehen?

Filizide sind vergleichsweise seltene Verbrechen. Unter 100.000 Kindern zwischen null und vier Jahren liegt die globale Filizidrate bei etwa fünf, schätzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Wobei die Dunkelziffer hoch sein dürfte. In Österreich werde alle zwei Monate ein Kind durch einen Elternteil getötet, sagt Sabine Amon. Die forensische Psychologin erforscht Filizide gemeinsam mit der Psychiaterin Claudia Klier an der Medizinischen Universität Wien. International seien Untersuchungen zu Filiziden extrem rar.

Keine geplante Tat

Die Arbeiten von Klier, Amon und ihren internationalen Kolleginnen und Kollegen haben aber bedeutende Erkenntnisse gebracht. So sind die meisten tötenden Elternteile Mütter, nämlich 72 Prozent. Bei einem Drittel der Filizide folgte auch ein Suizid. Psychische Störungen wurden bei zehn Prozent der noch lebenden Täterinnen und Tätern diagnostiziert, oft spielt auch Depression eine Rolle. Wobei die Forscherinnen betonen, dass man daraus selbstverständlich nicht eine allgemeine Gefahr durch depressive Menschen ableiten kann.

"Ein Filizid ist üblicherweise keine geplante, sondern eine impulsive Handlung", sagt Klier zum STANDARD. Die Motive für die Kindstötung seien meistens "falschverstanden altruistisch", ergänzt Amon. Tötende Eltern seien vereinnahmt von der Fantasie, dass man dem Kind etwas Gutes tue. Es herrscht – ähnlich wie bei suizidgefährdeten Personen – ein Tunnelblick, dass der Tod der einzige Ausweg sei. Der Kontext sind oft (drohende) Trennungen, prekäre soziale Situationen und Gewalt.

Viele Betroffene amtsbekannt

Die Wissenschafterinnen konnten in ihren Arbeiten die untersuchten Filizide in fünf Kategorien unterteilen. Die "homicidal-suicidal fathers" machen rund 17 Prozent der Fälle aus, sie stehen bei der Tat oft unter dem Einfluss von Alkohol oder anderen Drogen, meistens gibt es in der Familie eine Vorgeschichte von Gewalt. Drei Viertel dieser Männer töten sich nach dem Filizid auch selbst.

Elf Prozent der Kindstötungen gehen auf Elternteile zurück, die zu impulsiven, gewalttätigen Handlungen neigen, das Kind zuvor schon misshandelt hatten und dadurch Behörden bereits aufgefallen sind. Weitere 28 Prozent sind Alleinerzieherinnen und (wenige) Alleinerzieher, die bei der Tat nüchtern sind – auch sie sind meistens amtsbekannt.

Sonderfall Neugeborenentötung

Ein absoluter Sonderfall ist die Tötung von Neugeborenen innerhalb von 24 Stunden nach der Geburt. Die betroffenen Frauen haben die Schwangerschaft meist verdrängt und können mit dem Ergebnis der Geburt nicht umgehen. Um diesem Phänomen entgegenzuwirken, gibt es in Österreich seit 20 Jahren die Möglichkeit der anonymen Geburt.

"Geburt ist ein körperlich und psychisch sehr komplexes Erleben, bei dem die Emotionen hochgehen und die Hormone verrückt spielen", sagt der Psychiater Johannes Wancata. Die Täterinnen seien "meist sehr junge Frauen, die Schwangerschaft verdrängt und versteckt haben, sodass die Umgebung wenig davon mitkriegt und sie auch nicht unterstützen kann". Da die Täterinnen häufig gar kein Kind wollen, sei auch ein guter Zugang zu Verhütungsmethoden und Schwangerschaftsabbruch eine notwendige Maßnahme.

Verzweiflung hinter der Fassade

Eine Gruppe, die aus der Statistik heraussticht, sind die "prosocial, psychotic parents", auf die rund ein Viertel der Filizide zurückgeht: Das sind meist Frauen, die nach außen hin das Bild des glücklichen Familienlebens aufrechterhalten können, innerlich aber eine tiefe Unzufriedenheit und Verzweiflung spüren. Die erwartete Erfüllung durch die neue Mutterrolle sei hier meist nicht eingetreten, erklärt Amon. "Dann öffentlich zu sagen: Das ist zu wenig, ich habe mir das anders vorgestellt – das ist ein Tabuthema." Irgendwann führe diese Überforderung dann in ganz seltenen Fällen zu einer plötzlichen Psychose und zum Tod eines Kindes.

Womit man zur Frage gelangt, wie Filizide am besten verhindert werden können. Im Fall jener Eltern, die hinter einer vermeintlich schönen Fassade verzweifeln, sollen Freundinnen und Freunde gezielt über das dahingesagte "Wie geht's dir?" hinaus fragen, rät Amon, etwa: "Wie geht's dir denn mit dem Kind – ich stelle mir das schwierig vor." Empathisches Nachfragen könne für die Betroffenen enorm entlastend sein.

"Erziehung ist ein verdammt anstrengender Job"

Auf der übergeordneten Ebene ist die Prävention aber auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: "Es gehört auch dazu, dass man gesellschaftlich offener kommuniziert: Kinder zu erziehen ist ein verdammt anstrengender Job", sagt Amon. Auch vom eigenen Kind brauche man mal eine Auszeit. "Das ist immer noch ein Tabu." Dass die unbezahlte Arbeit zu Hause nach wie vor meistens an den Frauen hängenbleibt, trägt zum Problem bei.

Von allgemeiner Bedeutung seien auch Angebote, die rund um die Uhr erreichbar sind, wo sich Menschen in akuten Krisen – wie Depressionen oder Eheproblemen – Hilfe holen können (siehe Informationen am Ende des Artikels). "Leidet jemand unter Depressionen, ist es das Wichtigste, dass er oder sie schnell in Behandlung kommt", unterstreicht auch Psychiater Wancata.

Suizidprävention ist auch Filizidprävention

Da einige Filizide erweiterte Suizide sind, müsse auch die Suizidprävention ausgebaut werden. Ein spezielles Augenmerk sei auf Eltern zu legen, die bereits einen Suizidversuch unternommen haben, sagen die Forscherinnen. Kündigt jemand einen Suizid an, sei das immer ernst zu nehmen. Menschen müssten aber auch offen auf mögliche Suizidgedanken angesprochen werden: Die oft gehegte Sorge, jemanden so erst auf die Idee der Selbsttötung zu bringen, ist unbegründet.

Was außerdem helfen könne, seien Bildungsangebote, um werdende Eltern auf stressige Situationen vorzubereiten, sagen die Forscherinnen. Vorsorgeuntersuchungen und Hebammenbesuche nach der Geburt müssten ausgebaut werden. Es brauche ausreichend Beratungsangebote für überforderte Eltern und vor allem eine gute Unterstützung Alleinerziehender, sagen Amon und Klier. Behörden müssten auch besser zusammenarbeiten, um in Risikofällen schneller eingreifen zu können. Wichtig seien Antiagressionstrainings für jene, die zuvor schon durch Gewalt aufgefallen sind.

Und was können Angehörige tun, wenn sie merken, dass jemand aus dem Freundeskreis oder der Familie aggressiv mit einem Kind umgeht? Wancata rät zum vorsichtigen Ansprechen: "Wenn ein Elternteil bei Kleinigkeiten sehr aggressiv reagiert, ist es am besten, in einer ruhigen Minute das Gespräch zu suchen und ihm Hilfe ans Herz zu legen." Vorher könne man sich auch vom Jugendamt beraten lassen.

Genaue Untersuchungen fehlen

Was in Österreich fehle, sei eine genaue Untersuchung von Todesfällen bei Kindern. Im angloamerikanischen Raum etwa würde jeder Fall von einem Team aus verschiedenen Disziplinen genau analysiert, um mögliche Präventionsmaßnahmen ableiten zu können, sagt Klier: "Das fehlt bei uns." (Lisa Breit, Sebastian Fellner)