In Myanmars größter Stadt Rangun verbrennen Demonstranten die Verfassung von 2008. Sie sichert dem Militär weitreichende Macht zu.

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Mit blutroter Farbe ziehen dieser Tage die Demonstranten durch Rangun, "Das Blut ist nicht getrocknet", schreiben sie auf Bushaltestellen. Sie erinnern die Militärjunta daran, dass die mehr als 500 Menschen in den vergangenen Wochen nicht umsonst gestorben sind. Und dass weitergekämpft wird. Viele Teile der großen Städte Myanmars sind zur Kampfzone geworden. An manchen Tagen haben Sicherheitskräfte über hundert Menschen umgebracht. Allein am Mittwoch wurden fünf Demonstranten in der Stadt Kalay durch Polizeischüsse getötet, mehrere Personen wurden verletzt.

Trotz der überbordenden Gewalt wollen die jungen Demonstranten aber nicht aufgeben. Viele nehmen die Brutalität erst recht zum Anlass, zurückzuschlagen. Denn in ihren Augen soll das Land nicht wieder in den alleinigen Händen der Militärs landen.

Schon gibt es Berichte von jungen Leuten, die in die Grenzgebiete des Landes reisen, um sich dort von den kampferprobten Rebellen ausbilden zu lassen. Gewählte Parlamentarier rufen seit rund zwei Wochen zum Kampf auf, sollte der Konflikt im Land nicht friedlich zu lösen sein. Wie sich diese Vertreter gegen die mächtige Landesarmee, die Tatmadaw, wehren wollen? Dafür bündeln sie seit dem Putsch Anfang Februar als CRPH-Komitee ihre Kräfte und gehen plötzlich Wege, die in der bisherigen Geschichte Myanmars bislang immer scheiterten.

Der jüngste Schritt jenes CRPH-Komitees war vergangene Woche, die vom Militär verfasste Landesverfassung von 2008 für null und nichtig zu erklären und eine Art Übergangsverfassung auszurufen, die "Federal Democracy Charter". Das Dokument gewährt den vielen ethnischen Gruppen im Land explizit die Art von Freiheiten und Autonomien, auf die man sich bei der Staatsgründung in den 1940er-Jahren eigentlich geeinigt hatte.

Fehlender Föderalismus

"Ein Problem der Verfassung in Myanmar, das oft übersehen wird, ist der fehlende Föderalismus", sagt Georg Bauer von der Universität Wien. Nachdem das Land Unabhängigkeit von Großbritannien erlangt hatte, nahm das Militär jegliche Bestrebungen Richtung Föderalismus immer mehr als Bedrohung wahr. "Bis 2015 war das F-Wort quasi verboten." Auch die Verfassung von 2008, die die semidemokratische Öffnung des Landes initiierte, ließ zwar Parteien zu, Föderalismus wurde aber als Gefahr für die Union gesehen. Auch die NLD, die Partei der Demokratie-Ikone Aung San Suu Kyi, habe in den vergangenen Jahren hauptsächlich probiert, die Verfassung dahingehend zu ändern, dass das Militär seinen Einfluss verliere, sagt der Historiker. "Demokratie zuerst, Föderalismus nachher, das war ihre Devise."

Der jetzige Schritt des CRPH-Komitees markiert daher einen historischen Meilenstein für das Land. Denn die Charta trägt ganz offensichtlich die Handschrift ethnischer Gruppierungen im Land, erklärt Bauer. Laut dem aktuellen Dokument könnten die Bundesstaaten eigene Verfassungen haben, sie erhielten die primären Rechte über die Rohstoffe und hätten Macht über Steuerfragen. "Da sind sehr konkrete Dinge enthalten, die man schwer zurücknehmen können wird – sollten sie die Revolution gewinnen", meint Bauer.

Einheitsregierung

Offen bleibt natürlich die Frage, welche Gruppen den neuen Weg tatsächlich unterstützen – und wie stark ein solches Bündnis tatsächlich werden könne angesichts der mächtigen Landesarmee. Diese Woche noch soll basierend auf der Übergangsverfassung eine Einheitsregierung verkündet werden, die Vertreter der ethnischen Minderheiten inkludiert. So haben große Gruppen wie die Karen und die Kachin dem Bündnis bereits ihre Unterstützung zugesagt.

"Es ist zumindest fraglich, ob die Tatmadaw so stark ist, wie sie tut", sagt Bauer. "Sie haben es selten geschafft, an mehreren Fronten im Land zu kämpfen." Sollten tatsächlich mehrere Rebellenarmeen gleichzeitig angreifen und zusätzlich in den Städten Proteste stattfinden, könnte das Militär unter echten Druck geraten, schätzt er ein. "Das wird dann aber grausam."

Die Militärjunta hat auf den Schritt aus dem Untergrund nicht reagiert. Sie hält trotz anhaltender Proteste fest an ihrem Narrativ fest: dass die Wahlen im November zugunsten der NLD manipuliert wurden und sie deshalb die Macht an sich reißen mussten. Neuwahlen würde es in einem Jahr geben, so das Versprechen. (Anna Sawerthal, 7.4.2021)