Die Dynamik kenne man von historischen Pandemien, erinnert die Soziologin Barbara Rothmüller. Im individuellen Kontakt bleibe uns nichts anderes übrig, als die Unsicherheit weiterhin auszuhalten.

Osterruhe am Wiener Donaukanal, einem in Pandemiezeiten vielgescholtenen Ort "jugendlicher Verantwortungslosigkeit".
Foto: Christian Fischer

Die Suche nach Bevölkerungsgruppen, deren Verhalten für das Pandemiegeschehen verantwortlich gemacht werden kann, ist ein wiederkehrendes Muster. Schuldzuweisungen geben Menschen ein Gefühl von Kontrolle und Handlungsmacht zurück, die – zum Leidwesen aller – vor einem Jahr massiv verlorengegangen sind.

Bereits im Herbst 2020 ist es zu umfassenden Stigmatisierungsprozessen in der Bevölkerung gekommen, wie ein aktuelles Forschungsprojekt zeigt. Zu Beginn der Pandemie betraf Ausgrenzung Menschen mit zugeschriebener asiatischer Herkunft. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe an sozialen Gruppen, denen unterstellt wird, die Hauptüberträger des Virus zu sein: Migrantinnen und Migranten, Obdachlose, Suchtkranke, "ungepflegte" und Menschen mit niedriger Bildung sowie Berufstätige, die Kontakt mit Menschen haben, insbesondere im Gesundheitssektor, in Sozialarbeit, Verkauf, Lieferservice, Handwerk oder Polizei. Risikoberufe tragen nicht nur die Hauptlast der Pandemie, sie werden dafür auch gemieden. Das trifft Menschen, die beruflich mit Kindern zu tun haben, gelten diese doch gemeinhin als "Pandemietreiber". Und tatsächlich sind Kinder und Jugendliche die am häufigsten genannte Gruppe, die als besonders ansteckend wahrgenommen und gezielt gemieden wird. Das geht an Pädagoginnen, Pädagogen und nicht zuletzt an Kindern selbst nicht spurlos vorüber.

Hoher Druck auf Junge

Dass sich Jugendliche generell unverantwortlich verhalten, ist ein Vorurteil, das zeigt, wie wenig Altersdiskriminierung in der Bevölkerung reflektiert wird. Konträr zur öffentlichen Unterstellung jugendlicher Verantwortungslosigkeit leiden junge Menschen von 14 bis 29 Jahren besonders häufig unter starken Schuldgefühlen, dass sie jemand angesteckt haben oder anstecken könnten. Im Gegensatz zu älteren Menschen haben Junge stärker Angst, für ihr Verhalten in der Pandemie kritisiert zu werden. Sie tolerieren häufiger, wenn ihnen jemand näher kommt, als sie möchten – nicht weil es ihnen hinsichtlich der Risiken egal ist, sondern um einen Konflikt zu vermeiden.

Anstatt junge Menschen pauschal als Virenträger zu stigmatisieren, wären solidarische Lösungen gefragt, die das Pandemieverhalten sozial analysieren – und nicht moralisieren. Die Soziologie fragt nach: Was sind eigentlich die sozialen Bedingungen einer physischen Distanzierung? Werden Menschen aufgrund der Umstände, aus beruflichen Verpflichtungen oder psychischer Not an der Umsetzung der Kontaktbeschränkungen gehindert? Oder entscheiden sie sich bewusst dafür, nicht nur sich selbst, sondern auch andere Menschen einem Risiko auszusetzen?

Soziale Dynamiken

Relevant für die Beurteilung ist dabei der Möglichkeitsraum. Während Kinder sich nicht aussuchen können, ob sie in die Schule gehen, ist die Busfahrt zu einer Demonstration, ohne Maske und singend womöglich, weder notwendig noch alternativlos. Am häufigsten werden – in dem Fall zu Recht – Menschen gemieden, die sich nicht an die Pandemiemaßnahmen halten und Party machen. Das ist nicht diskriminierend, weil es keine benachteiligte Bevölkerungsgruppe pauschal ausgrenzt, die aufgrund ihrer sozialen Umstände kaum andere Handlungsmöglichkeiten hat.

Die WHO hat bereits im März 2020 davor gewarnt, Erkrankungen an bestimmte Bevölkerungsgruppen und ihr vermeintliches Fehlverhalten zu binden. Denn die Dynamik ist von historischen Pandemien bekannt: Ethnische Minderheiten wurden häufig für Krankheiten verantwortlich gemacht und sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen als gesellschaftliches Hygieneproblem dargestellt. Auch sexuelle Minderheiten wurden für die Verbreitung sexuell übertragbarer Infektionen stark ausgegrenzt. Stigmatisierung und Verfolgung sind historisch gut dokumentiert. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass sich soziale Ausgrenzung heute nicht wiederholt.

Unsicherheit aushalten

Allerdings sind es aktuell vor allem Corona-Leugnerinnen und Corona-Leugner, die sich selbst als Verfolgte darstellen, sozialwissenschaftliche Forschung vereinnahmen und versuchen, sie gegen die Pandemiemaßnahmen zu positionieren. Die psychosozialen Folgen der Pandemie ernst zu nehmen impliziert jedoch keineswegs automatisch eine Rücknahme der Distanzierungsmaßnahmen. Soziologische Erkenntnisse ermöglichen es vielmehr, die sozialen Dynamiken der Pandemie zu sehen – und dafür bewusst gesellschaftliche Lösungen zu suchen. Im individuellen Kontakt bleibt uns nichts anderes übrig, als die Unsicherheit, so unerträglich sie auch ist, weiterhin auszuhalten und nicht vermeintliche Sicherheit und emotionale Entlastung aus der Stigmatisierung marginalisierter Bevölkerungsgruppen zu beziehen. (Barbara Rothmüller, 7.4.2021)