Foto: Sööt/Zeyringer

Spazierengehen ist zur ultimativen Freizeitdisziplin avanciert und ist auch nach einem Jahr Pandemie noch der Renner in Lockdown-geplagten Gegenden. Zustrom kommt nun auch vonseiten des Theaterpublikums. Das Performanceduo Sööt/Zeyringer bringt im Brut Wien heute einen Audiowalk (auf Englisch) heraus, der ja zu den Corona-kompatiblen Theaterformaten zählt und mit Frühlingsbeginn auch wieder Saison hat.

Über eine Audiodatei leiten Tiina Sööt und Dorothea Zeyringer einen Spaziergang durch das jeweilige Viertel an, um diesem eventuell Interessantes oder Neues abzugewinnen. Und wenn nicht? Auch egal. Denn das Ganze heißt More or less und ist eine Übung in Gelassenheit, in Mäßigung, im Sich-Bescheiden, im Prokrastinieren. Einfach nicht mehr hundert Prozent geben!

Nur ein Prozent geben

Zum Beispiel ereilt einen über Kopfhörer beim Gehen die Aufforderung, den Atem zu verlangsamen und dann die Luft anzuhalten. Länger. Noch länger. Und noch ein bisschen länger. Bis nach recht langer Zeit die Stimme darauf hinweist, dass es so lange ohne Sauerstoff doch gar nicht gehe und dies natürlich ein Scherz gewesen sei. Später lautet die Aufgabe, sich eine Landmark zu suchen und sie anzusteuern. Man geht los. Doch kaum gestartet, sagt die Stimme plötzlich Stopp und meint, es reiche. Denn auch nur 50 Prozent zu geben sei schon recht viel, 40 Prozent ebenso. Sehr vieles könne man auch mit nur 25 Prozent Einsatz erreichen. Sogar mit zehn. Und in Wahrheit genüge auch nur Sein, das wäre dann ein Prozent.

Einfach einmal nicht ans Limit gehen, sich nicht alles aufhalsen, nicht immer das Beste erwarten und geben. Ja, darf man das denn? Kunst darf, man zahlt nur sechs Euro dafür. Über den nicht übertrieben trägen, aber doch gemächlichen Stimmen der beiden Künstlerinnen liegt Bartleby-Stimmung, also jener verschlafene Ton, mit dem der gleichnamige Schreibgehilfe in Herman Melvilles Erzählung seine Unwilligkeit höflich kundtut ( "I would prefer not to").

Nicht das Beste vom Besten

Der in jedem kapitalistischen Haushalt verpönte Schlendrian setzt indes neue Kräfte frei. Analog zu Trends wie Slow Food, Slow Living oder Slow Travel plädieren Sööt/Zeyringer ebenfalls fürs Kürzertreten, für eine andere Art des Betrachtens. More or less ist also – wider alle Brecht’sche Weisheit – der Freibrief fürs Richtig-romantisch-Glotzen. Einmal tut sich in der Landschaft ein vierminütiges Theaterstück auf.

Und wem das nicht gefällt: egal. Es kann und muss eben nicht immer das Beste vom Besten geboten werden. Eine Tatsache, die unsere auf Wettbewerb getrimmten Hirne gern ausblenden. In diesem Sinn funktioniert More or less tatsächlich: Je simpler und unaufgeregter der Spaziergang wird, umso nachdenklicher macht er. Die Überraschung ist seine Untertreibung. (Margarete Affenzeller, 8.4.2021)