Der Marsch der Lebenden fand zuletzt 2019 statt (Bild). Heuer gibt es eine Onlineveranstaltung. Die Veranstalter hoffen, dass es 2022 wieder einen echten Marsch gibt.

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"Wenn ich in eine Buchhandlung gehe, steuere ich als Erstes die Abteilung über den Zweiten Weltkrieg an", erzählt Leon L., "das hört sich vielleicht seltsam an, aber ich kann nicht anders." Der 67-Jährige habe "die Shoa mit der Muttermilch aufgesogen, und sie wird mich bis zum Tod begleiten". In Österreich "verstehen das die Leute nicht".

Leon L. ist in Wien aufgewachsen, er lebt in Wien und in Tel Aviv. In Israel ist der Holocaust-Gedenktag – er variiert nach Berechnung des gregorianischen Kalenders und findet heuer am 8. April statt – ein nationaler Trauertag. Und er wird mit Staatsakt begangen. Niemand kommt am Gedenken vorbei, es begegnet den Menschen in den Schulklassen, auf allen Fernsehkanälen, in den vielen Einladungen zu "Wohnzimmergedenken", in denen Überlebende oder deren Kinder vor Gästen darüber sprechen, wie die eigene Biografie mit dem großen Horror zusammenhängt.

In Österreich "ist es ihnen wurscht"

In Österreich sei das anders, meint Leon L., zu lange sei die Mär vom kleinen Land, das nur ein Opfer der Nazis war, offizielle Erzählung gewesen. Ob sich die Gedenkkultur in den vergangenen dreißig Jahren verbessert habe? L. glaubt es nicht. "Das Publikum ist desinteressiert, es ist ihnen wurscht." Oft seien es Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die Holocaust-Gedenkveranstaltungen organisieren, und L. hält das für falsch. Die nichtjüdischen Österreicher sollten mehr Verantwortung übernehmen, findet er. "Wir Juden haben das Thema doch tagtäglich in der eigenen Familie."

Seine Eltern hätten von den Erlebnissen in den Konzentrationslagern schwere Traumata davongetragen. "Sie haben überlebt, aber etwas ist auch in ihnen gestorben. Sie haben so schreckliche Dinge erlebt, die man nicht verkraften kann." Als Kind habe ihn dieses Trauma von Geburt an begleitet, in der Schule wurden die Wunden durch Bemerkungen von Mitschülern und Lehrern aufgerissen. "Ein Achtjähriger sagte zu mir: Deine Eltern hat Hitler vergessen zu vergasen." Das war in den 1960er-Jahren.

Während manche Österreicher nun finden, man könne schön langsam aufhören mit dem Gedenken, hat L. keine Wahl, ob er sich erinnert oder nicht. Am "Marsch der Lebenden" vom Konzentrationslager Auschwitz zum Vernichtungslager Birkenau nahm er trotzdem teil, oder gerade deswegen. "Ich wollte sehen, wo mein Vater mehrere Jahre seines Lebens verbracht hat."

Den Toten Gedenken schuldig

Baruch Adler ist einer der Mitbegründer des "Marsches der Lebenden". Er kam in Israel zur Welt. Auch er wurde in eine Familie geboren, die aus wenigen Überlebenden bestand und vielen Ermordeten, die immer mit am Tisch saßen. "Ich bin der Sohn einer Frau, die alle Angehörigen verloren hat", sagt Adler. Die Mutter überlebte die Shoa in Polen, in einem Loch in der Erde, wo sie eineinhalb Jahre in gekrümmter Haltung verbrachte. Versorgt wurde sie von einem Mann, der in seiner Gemeinde als "Dorfnarr" verachtet wurde, heute ist er einer der Gerechten unter den Völkern. "Diese Geschichte hat in mir den Drang wachsen lassen, selbst etwas zu organisieren, damit nicht vergessen wird", sagt Adler. "Ich hatte das Gefühl, ich sei es den Toten schuldig."

Am ersten Marsch der Gerechten vor 33 Jahren nahmen tausend Menschen teil, die Hälfte davon aus Israel. Man habe sich darum bemüht, Teilnehmer aus der ganzen Welt zu mobilisieren, sagt Adler. "Heute kommt die Hälfte aus Nord- und Südamerika, die Israelis sind eine kleine Minderheit."

Gegen Vergleiche in der Pandemie

Wegen der Pandemie muss der Marsch heuer zum zweiten Mal in Folge virtuell stattfinden. "Das ist natürlich nicht dasselbe", sagt Adler. Im Gegensatz zum Vorjahr, in dem der bereits vorbereitete Marsch abgesagt werden musste, hatten die Organisatoren diesmal monatelang Zeit für die Planung. Ihr Vorsatz war, den Ort des Gedenkens in der virtuellen Veranstaltung so präsent wie möglich zu halten. Überlebende, Politiker und Vertreter jüdischer Organisationen in den USA und Israel wurden vorab bei einem Marsch durchs virtuelle, dreidimensionale Areal gefilmt. "Es ist wichtig bei so einer Veranstaltung, dass man den Schmerz des Ortes integriert", sagt Adler.

Der 3D-Marsch sei aber nur eine vage Annäherung, die das reale Gedenken nicht ersetzen könne. "Wir hoffen sehr, dass wir nächstes Jahr wieder marschieren können." Die Pandemie spielt auch beim diesjährigen Themenschwerpunkt eine Rolle. Da im vergangenen Jahr die medizinischen Berufe ins Licht gerückt wurden, habe man beschlossen, das auch im Gedenken zu tun, erklären die Organisatoren. Unter den israelischen Prominenten, die am 3D-Marsch teilnehmen, findet sich auch der Corona-Beauftragte der Regierung, Nachman Ash, und Leiter der wichtigsten israelischen Spitäler.

Wobei es im Fall des Gedenkmarsches um alle Seiten gehe, sagt Adler: nicht nur um ermordete und vertriebene Mediziner, sondern auch um Ärzte und Krankenpfleger als Täter, um Medizin und Pharma als Forschungszweige, die aus der Massenvernichtung Profit schlugen. "Wir wollen absolut keine Parallelen ziehen zwischen der Pandemie und dem Holocaust", betont eine Sprecherin. "Nichts kann mit dem Holocaust verglichen werden, weder auf der Ebene der Täter, noch auf jener der Opfer." Im Gedenken gehe es aber auch darum, jedes Jahr den Blick auf einen anderen Bereich der Gesellschaft zu richten, sagt Adler. "Diesmal ist es eben die Medizin, nächstes Jahr wird es eine andere Einrichtung sein. Dann hoffentlich wieder vor Ort." (Maria Sterkl aus Jerusalem, 8.4.2021)