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Wer direkt am Turkana-See wohnt, hat immerhin Chancen auf dessen Wasser. Anderswo fehlt das Nass überhaupt.

Foto: Reuters / BAZ RATNER

An einem Morgen im März drückt Selena Akitela ihren Kanister in einen algengrünen Teich. Insekten schwimmen um ihre Waden. Das Wasser riecht übel. Die 18-Jährige hievt den Kanister auf ihren Kopf und balanciert ihn mit schnellen Schritten durch eine Landschaft, der die Sonne alle Farben entzogen hat. "Wir bekommen Durchfall vom Wasser und müssen erbrechen", sagt Akitela, "manchmal trinken wir es trotzdem."

Der Teich soll eigentlich als Viehtränke dienen, aber seit Monaten haben Akitela und die anderen Frauen aus dem Dorf Edaraja im Nordwesten Kenias keine andere Wasserquelle. Die Flussbetten sind trocken. Am Vortag versuchten sie es an der nächstgelegenen Wasserstelle, zwölf Kilometer entfernt. Andere Frauen verjagten sie – wieder einmal, weil das Wasser knapp war. "Wasser ist unsere Hauptaufgabe", sagt Akitela, "Ich kann mich um nichts anderes kümmern."

Die Turkana-Region liegt im Nordwesten Kenias.
Grafik: Standard

Es wird viel heißer

Seit Monaten hat es nicht mehr geregnet in Turkana, einer Region, die in etwa so groß ist wie Bayern und nicht viel kleiner als Österreich. Schon immer war es hier heiß und trocken, aber jetzt verschärfen sich die klimatischen Bedingungen. Die Regenzeiten geraten aus den Fugen, es kommt häufiger zu Dürren, aber auch zu Überflutungen. Während sich die globalen Temperaturen im vergangenen Jahrhundert um 0,8 Grad erwärmten, stiegen sie in Turkana in 50 Jahren um 1,8 Grad an.

Turkana ist das, was manche als "climate canary" bezeichnen. So wie Kanarienvögel früher unter Tage vor gefährlichen Bedingungen im Bergbau gewarnt haben, zeigt die Region, was passiert, wenn es heißer wird und der Regen nicht mehr dann fällt, wenn ihn die Leute erwarten. Milliarden Menschen werden bald vor ähnlichen Problemen stehen: Jüngsten Studien zufolge werden knapp 20 Prozent der Erdoberfläche bis 2070 einer durchschnittlichen Jahrestemperatur von 29 Grad ausgesetzt sein. Heute sind es erst 0,8 Prozent.

Frauen bleiben zurück

Auf ihren Schultern und um ihren Hals trägt Selena Akitela hunderte Perlenketten, die Haare rasiert sie an den Seiten ab. Sie gehört der indigenen Bevölkerung an, wie die meisten der 927.000 Bewohner Turkanas. Ihre Vorfahren entwickelten über die Jahrhunderte hinweg eine an die Hitze angepasste Lebensweise. Trocknen die Weideflächen aus, ziehen die Männer mit dem Vieh in grünere Regionen. Die Frauen kümmern sich um die Kinder, die Häuser, die Jungtiere. Sie leiden besonders unter den Dürren.

Kurz nach Mittag sitzt Akitela in einem ausgetrockneten Flussbett und ruht sich aus. Sie hat gerade zum zweiten Mal Wasser aus dem stinkenden Teich geholt. Ihr Kopf schmerzt vom Gewicht des Kanisters. "Ich muss jetzt Holzkohle machen", sagt sie und bleibt trotzdem sitzen. Ihre Tochter Abbey krabbelt auf ihren Schoß. Die Babyhände schieben das Tuch zur Seite, das die Brust der Mutter bedeckt. Abbey fängt an zu trinken. Akitela scheint es nicht einmal zu bemerken.

Wasser oder Ziege

"Eine Ziege ist diese Woche zusammengebrochen", erzählt Akitela, "Ich brauche Milchpulver für ihre Jungen." Eigentlich müsste sie wie die anderen Frauen am Straßenrand um sauberes Wasser betteln, aber sie darf keine weitere Ziege verlieren. Die Holzkohle wird sie gegen Milchpulver und Mais eintauschen. "Mein Mann ist alt und kann sich nicht um uns kümmern", sagt Akitela. Sie ist seine zweite und jüngste Ehefrau. Sie ist seine Altersvorsorge. Es ist ihre Aufgabe, die Familie durchbringen.

"Mach Holzkohle!", befiehlt Regina Awesit, die erste Ehefrau, die neben Akitela im Flussbett liegt. Hustenanfälle schütteln den Körper der Mittdreißigerin. Akitela rafft sich auf. Sie klettert die Böschung hoch, zu einem Holzhaufen, für den sie drei Tage lang Äste gesammelt hat. Sie legt frische Blätter auf das Holz, schiebt einen brennenden Zweig unter den Haufen und bedeckt ihn mit Erde, damit das Feuer langsam schwelen kann. "Bedeck alles!", ruft Awesit.

Die Dürren zwingen Mädchen und Frauen zurück in traditionelle Rollen. Schon vier- und fünfjährige Mädchen rollen 20-Liter-Kanister zu weit entfernten Quellen, wenn das Wasser knapp ist. "So sind sie exponierter und können Männern auffallen", sagt Agnes Mana, Caritas-Programmleiterin in Lodwar, der Hauptstadt Turkanas. "Ältere Männer können sich eine Zwölf- oder Dreizehnjährige reservieren, die sie drei Jahre später heiraten."

Gefangen im System

Kinderehen sind in Kenia verboten, Regierungsberichte gehen aber davon aus, dass 23 Prozent der verheirateten Frauen zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit minderjährig waren. Laut Caritas liegt der Anteil in Turkana bei 30 Prozent. "Durch die Dürren steigt das Risiko, dass Mädchen früher verheiratet werden, weil Eltern in Krisenzeiten Mitgift brauchen", sagt Mana. In den Dörfern Turkanas stillen 14-Jährige ihre Babys. Sie lauschen besorgt, wenn ältere Frauen von häuslicher Gewalt und Vergewaltigungen erzählen.

"Die Turkana leben in einem patriarchischen System", sagt Mary Nyasimi, Direktorin des Programms Inclusive Change Adaptation for Sustainable Africa. "Frauen müssen ihre Ehemänner um Erlaubnis bitten, wenn eine NGO ihnen etwa Hühner geben möchte." Momentan können das viele gar nicht. Denn ihre Männer sind mit Vieh in ugandische und südsudanesische Grenzgebiete gezogen. Im schlimmsten Fall bleibt eine Frau als Witwe zurück, ohne Mann und Kapital.

Zerstörerische Kolonialisierung

Heute ist es schwer vorstellbar, dass die Turkana im 19. Jahrhundert zu den reichsten Ethnien in Ostafrika gehörten. Der Historiker John Lamphear beschreibt in seinem Buch Scattering Time die Folgen des Widerstands, den die Turkana gegen die britischen Kolonialherren leisteten. "Die Kolonialisierung hat Turkana zerstört", sagt er am Telefon. Die Briten nahmen ihnen hunderttausende Tiere weg, erschossen die Anführer und schotteten die Provinz ab, um positive Einflüsse durch Bildungs- oder Entwicklungsprogramme fernzuhalten.

"Die Turkana trotzten dem trockenen Klima, indem sie ihre Herden erweiterten und neue Weideflächen eroberten", sagt Lamphear. Innerhalb von definierten Grenzen seien sie verloren gewesen. Nach der Kolonialzeit setzte die unabhängige Regierung in Nairobi die britische Politik für einige Zeit fort.

Neben Selena Akitelas Dorf verläuft eine neue Asphaltstraße durch die Landschaft. Baufahrzeuge rasen darauf auf und ab. Das chinesische Unternehmen Cico baut die 309 Kilometer lange Straße. Sie soll den Südsudan mit Kenias Häfen am Indischen Ozean verbinden. Für Turkana, eine Region mit schwacher Infrastruktur, kann sie eine Chance sein – bisher ist sie es nicht.

So sind die Regeln

Das chinesische Bauunternehmen hat die Kontrolle über einige Bohrlöcher übernommen. Es kontrolliert seit drei Jahren auch die Wasserstelle. John, ein Cico-Mitarbeiter, der die Wasserstelle überwacht, sagt, seine chinesischen Chefs seien wütend, wenn er den Frauen zu viel Wasser gebe.

Akitela weiß, dass ihre Region Investitionen benötigt. Sie wünscht sich eine bessere Zukunft für ihre Tochter: "Hätte ich Wasser und wäre in der Nähe eine Schule, würde ich Abbey später dort hinschicken", sagt sie. Sie glaubt, dass ihre Tochter trotzdem das gleiche Leben haben wird wie sie. "Man heiratet früh, so sind die Regeln", sagt sie. (Olivia Kortas, Kasper Goethals, 8.4.2021)