Der russische Regisseur versetzt Wagners "Parsifal" in ein Gefängnis.

Foto: Ira Polyarnaya

Wer keine Reise tut, hat dennoch einiges zu erzählen. Bei dem Regisseur, der aus Russland nicht rausdarf, Kirill Serebrennikov, speist sich die Erzählkunst, wie er meint, aus Erinnerungen der besonderen Art. Seine Inszenierungen würde er sich nicht ausdenken, er erinnert sie sich herbei.

In einer Art Déjà-vu-Erlebnis entstünden "tief in mir drin" Bilder zum jeweiligen Werk. Allerdings wiesen sie gewisse Lücken auf, Erinnerungslücken somit. Die Arbeit bestünde hernach darin, diese Bilder zu vervollständigen.

Das kannte er

Der Russe, der an der Wiener Staatsoper Richard Wagners Parsifal inszeniert, muss die Vervollständigung seiner aktuellen Ideen allerdings aus der Ferne absolvieren – per Video. Dass dieser eher absurde Probenstil irgendwelche Vorteile hätte, verneint Serebrennikov.

"Der einzige Vorteil war, dass ich diese Arbeitsweise schon kannte ...". Er denkt dabei an die dramatischen letzten Jahre: Von den russischen Behörden angeklagt, bei seinen Kulturprojekten staatliche Fördermittel veruntreut zu haben, wurde er am 22. August 2017 verhaftet und später unter Hausarrest gestellt.

Wie im Kalten Krieg

Dennoch kam etwa an der Hamburgischen Staatsoper seine Inszenierung von Verdis Nabucco heraus. Der Weg dorthin? Er erinnert ein wenig an "Spionagespiele" aus dem Kalten Krieg: Am Opernhaus wurden die Proben per Handy gefilmt und über Vertrauensleute an den isolierten Regisseur weitergereicht, der das Material mit Kommentaren versah und wieder zurückschickte.

In Hamburg saßen die Sänger und Sängerinnen dann vor Computern und studierten die Vorschläge des Regisseurs. Eine ähnliche Technik kam bei Cosi fan tutte am Opernhaus Zürich zur Anwendung; als Regiebote fungierte Serebrennikovs Anwalt Dmitrij Charitonow. Zum geheimen Infotransport musste es bei der Wiener Produktion, die am Sonntag aufgezeichnet wird, nicht kommen.

Der Hausarrest wurde vor einiger Zeit aufgehoben. Im anschließenden Prozess wurde Serebrennikov zu drei Jahren Haft verurteilt, allerdings auf Bewährung, was den Bewegungsradius etwas erweiterte.

Was doch stattfand

Wie auch immer. Die zermürbende Angelegenheit hatte zuvor auch groteske Züge angenommen. Zwischenzeitlich hatte Serebrennikov das Publikum per Facebook dazu aufgerufen zu bezeugen, dass es eine Sommernachtstraum-Produktion tatsächlich gesehen hatte. Die Behörden behaupteten, das Stück sei nie aufgeführt worden, obwohl es auch Gastspiele in Paris gab. Jedenfalls hofft Serebrennikov nun, "bald ausreisen zu können. Die Situation ist allerdings noch nicht klar und übrigens nicht nur für mich kompliziert."

Verhaftung, Hausarrest, drei Jahre auf Bewährung: Es wundert nicht, dass Serebrennikov als zentralen Ort für die ermatteten Gralsritter ein Gefängnis gewählt hat. Zu sehr möge man dies allerdings nicht an seine Geschichte binden, findet er.

Neue Mythologie

Das Gefängnis wäre nämlich ein vielschichtiger Ort, "auch ein Ort der Revolte, wie man an Amfortas sieht. Es ist ein Ort, der eine neue Mythologie schaffen kann, was an Gurnemanz zu erkennen wäre." Ganz wesentlich für die Wahl des Ortes sei auch der Satz "zum Raum wird hier die Zeit" gewesen. Das Gefängnis sei die vollkommene Metapher für diese Idee.

Obwohl: "Ich kann natürlich nichts machen, das nicht irgendwie doch persönlich wäre. Ich bin auch alle Figuren, bin Amfortas, bin Parsifal und bin Kundry!" Überhaupt sei die ganze Inszenierung ein "Denkmal der Pandemie". Sein durch den Hausarrest bewirkter "persönlicher Lockdown wurde schließlich zum globalen Lockdown".

Man trifft sich selbst

Seine Inszenierung führt in diesem Zusammenhang auch vor, was schmerzhafte Selbstbetrachtung bedeuten kann. "Durch Corona treffen alle, die isoliert sind, sich selbst. Wir leben sonst von uns abgelenkt, in der Isolation stellen sich aber Fragen: Wer sind wir? Wer ist Gott? Ist Gott tot?" Sehr wichtig: Serebrennikov erzählt die Geschichte als Rückblende. Tenor Jonas Kaufmann erinnert sich als gereifter Parsifal an seinen Weg vom reinen Tor zum Gralskönig. Ein Schauspieler gibt den jungen Parsifal, der somit doppelt besetzt ist.

"Meine Freunde sagten, das würde fürs Publikum zu kompliziert. Aber die Ritter, der Speer? Das finde ich noch komplizierter. Das hätte man gründlich erklären müssen." Die Rückblende erkennt Serebrennikov auch bei Richard Wagner.

Viel Mitgefühl

Für ihn ist das Alterswerk zudem eine Reflexion darüber, wie "Verstand und metaphysische Weltwahrnehmung" in Einklang gebracht werden können. Da lässt sich also viel hineindeuten.

Oberflächlich wäre es jedoch, in der Inszenierung direkte Bezüge zum inhaftierten Oppositionellen Alexei Nawalny zu erkennen, zu dem Serebrennikov meint: "Jeder Mensch in einem Gefängnis ruft bei mir Mitgefühl hervor. Umso mehr, wenn er ein Mensch ist, der aufgrund seiner Überzeugungen in einem Gefängnis sitzt." Konkreter wollte er nicht werden. (Ljubiša Tošić, 7.4.2021)