Lassen sich auch Menschen eines Tages exakt in der virtuellen Welt nachbilden, um damit Medikamente und Impfungen besser zu testen?

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Genau genommen existiert der Stadtstaat Singapur zweimal. Einmal in der realen Welt, mit all seinen Bewohnern, Straßen und Gebäuden, und ein weiteres Mal in der digitalen Welt als exakte Repräsentation seiner selbst. Seit mittlerweile sieben Jahren arbeiten die Entwickler und Entwicklerinnen an dem virtuellen Doppelgänger, der der ursprünglichen Stadt in jedweder Hinsicht ähneln soll: Aus welchem Material die Wände, Böden und Dächer der Gebäude gemacht sind, durch welche Straßen der Wind am stärksten bläst und wo sich der Verkehr am Morgen und Abend am meisten staut, sind in dem Modell abgebildet.

Und die Städteplanerinnen in Singapur sind nicht die Einzigen, die virtuelle Doppelgänger schaffen: Auch in Shanghai haben Experten und Expertinnen einen exakten Klon ihrer Stadt kreiert. Damit sollen künftig Staus oder auch Extremwetterereignisse wie Überschwemmung genauer simuliert und im Fall des Falles besser darauf reagiert werden können. Einige Forscher und Forscherinnen gehen noch weiter: Sie wollen gar die gesamte Erde simulieren, um Auswirkungen des Klimawandels besser vorhersagen zu können. Und in der Medizin könnten digitale Klone von Menschen künftig Medikamenten- und Impfstofftests erleichtern und so vielleicht beim Kampf gegen kommende Pandemien helfen.

Millionen von Daten

Tatsächlich feiert die Technologie der digitalen Zwillinge, die bereits seit einigen Jahren existiert und bisher vor allem in der Luftfahrt verwendet wurde, gerade eine Renaissance. Grund dafür ist für viele Expertinnen und Experten nicht nur die bessere Rechenleistung von Computern, sondern auch die Millionen von Daten, die rund um die Uhr von Sensoren, Kameras, Smartphones, Autos und anderen Geräten eingespeist und von Unternehmen und Organisationen ausgewertet werden können.

Das generelle Prinzip der digitalen Zwillinge ist schnell erklärt: Ein Objekt oder ein Prozess, der in der realen Welt schon oder noch nicht existiert, wird in der digitalen Welt repräsentiert, wobei der digitale Doppelgänger dem realen Objekt oder Prozess in allen Eigenschaften und im Verhalten so ähnlich wie möglich sein soll. Gelingt das, lassen sich an dem virtuellen Abbild alle möglichen Szenarien und Tests ausprobieren, ohne direkt in die reale Welt einzugreifen.

Die Technologie hat es mittlerweile auch in die europäische Strategie des Green Deals geschafft. Politikerinnen wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sehen darin die Möglichkeit, Städte CO2-neutral und lebenswerter zu machen, indem sie künftig besser und ressourcenschonender designt werden. Die Modelle sind Teil der neuen "Bauhaus"-Bewegung der Kommission, bei der nachhaltige Lösungen für Gebäude gefunden werden sollen.

Emissionen berechnen

Indem Gebäude noch vor dem Bau digital erstellt werden, sollen so beispielsweise Materialien wie Holz oder Bambus auf ihre Widerstandsfähigkeit getestet werden. Auch der CO2-Abdruck jedes Gebäudes ließe sich laut Befürwortern und Befürworterinnen noch besser bereits im Vorhinein berechnen – bei den 25 bis 45 Prozent an Emissionen, die der Bau von Gebäuden, Straßen und anderer Infrastruktur jedes Jahr produziert, gäbe es beim Umwelt- und Klimaschutz in dem Bereich laut Experten und Expertinnen ja noch viel Potenzial.

Tatsächlich scheint es kaum einen Bereich zu geben, der von den neuen Simulationstechnologien unangetastet bleibt: Unternehmen, die damit ihre Lieferketten verfeinern, Industrien, die die Produktion überwachen, oder Zugunternehmen, die mit den Modellen die Geschwindigkeit der Züge exakt auf Wetterbedingungen und Steigungen anpassen wollen, um Energie zu sparen. Nicht zuletzt erhoffen sich Entwickler und Entwicklerinnen auch vom Einzug autonomer Fahrzeuge, bei denen Sensoren laufend die Umgebung analysieren, Unmengen an Daten, die dann in digitale Modelle einfließen können.

Der digitale Mensch

Daten von Gebäuden und Fahrzeugen in die virtuelle Welt zu befördern ist eine Sache. Etwas anderes ist es, wenn auch wir Menschen digital "geklont" werden. Schon jetzt sich mit den unzähligen Daten, die jeder Internetnutzer und -nutzerin im Netz hinterlässt, ein gutes Profil zu vielen Menschen erstellen. Künftig könnte das Abbild aber noch wesentlich genauer und umfangreicher werden.

Was für viele wohl etwas befremdlich wirkt, verspricht für einige Mediziner und Medizinerinnen der große Durchbruch zu werden: Denn gäbe es ein exaktes digitales Abbild eines Patienten oder einer Patientin, ließen sich daran Krankheitsverläufe, Medikamente oder Impfungen möglichst realitätsnah simulieren. Dafür müsste das Immunsystem, Organe und andere Körperteile und DNA-Informationen exakt digital nachgebildet werden.

Individuelle Behandlungen

In Zukunft sollen sich so beispielsweise Medikamente und Behandlungen noch genauer an die individuelle Person anpassen lassen, aus deren historischen Gesundheitsdaten ein digitales Abbild erstellt wurde, und Reaktionen auf die Behandlung können bereits im Vorhinein simulieren werden, ohne den Patienten jemals zu schaden. Laut den Befürwortern und Befürworterinnen ließe sich so auch der gesamte Entwicklungsprozess von künftigen Impfungen beschleunigen, indem digitale Klone in klinischen Studien zum Einsatz kommen.

Noch aber stößt die Technologie schnell an ihre Grenzen: Vor allem deshalb, weil der menschliche Körper äußerst komplex ist. Noch immer ist in der Wissenschaft nicht völlig geklärt, weshalb das Immunsystem in bestimmten Situation und bei bestimmten Menschen anders reagiert und so unterschiedliche Krankheitsverläufe hervorruft. Auch deshalb gehen einige Experten und Expertinnen davon aus, dass vor dem gesamten Menschen erst einmal einzelne Organe digital dupliziert werden könnten.

Ethische Fragen

Das Thema wirft aber auch einige ethische Fragen auf: Welche Daten von welchen Patienten und Patientinnen werden in das Programm eingespeist? Es ist gut denkbar, dass eine Datenlage, die bestimmte Bevölkerungsgruppen eher inkludiert als andere, auch zu Diskriminierungen bei den Behandlungen führen kann. Wie werden die Daten gesammelt? Haben wir eines Tages alle Sensoren im Körper verbaut, die unsere digitalen Abbilder mit Daten versorgen? Was bedeutet das für unsere Privatsphäre?

Schließlich sind alle digitalen Abbilder von Städten, der Umwelt oder uns Menschen nur so gut, wie die Daten, die dafür verwendet werden – und selbst dann wohl noch bestimmten Unsicherheiten unterworfen. Auch die Energie, die für die gewaltigen Rechenleistung einiger Modelle nötig ist, müsste am Ende sauber produziert werden, um die Vorteile der Technologie anderswo nicht wieder wettzumachen, sagen Expertinnen und Experten. Bis zum genauen digitalen Abbild unserer Welt könnte es also noch ein wenig dauern. (Jakob Pallinger, 13.4.2021)