In der russischen Hauptstadt Moskau klettern die Temperaturen nach oben, und die Menschen genießen den gelockerten Lockdown.

Foto: EPA/SERGEI ILNITSKY

"Haben Sie auch eine Maske", fragt Anastasija den Besucher vor sich, während sie mit einem Digitalthermometer an dessen Handgelenk die Temperatur misst. Das Lächeln der jungen Empfangsdame am Eingang des Moskauer Fitnesscenters Onegin ist dabei allenfalls in der Stimme zu hören, aber nicht zu sehen, denn sie selbst trägt natürlich ebenfalls eine Maske – im schwarzen Firmenlook. Wobei diese nur den Mund bedeckt und die Nase offen lässt. Zudem kontrollieren Anastasija und ihre Kollegen nur das Vorhandensein der Masken bei den Ankömmlingen, während bei denjenigen, die den Sportsaal verlassen, fast durch die Bank weg, der Mundschutz in der Hosentasche oder im Rucksack steckt.

Die Kontrolle dient also in erster Linie wie so vielerorts in Russland dem Häkchen. Auch im öffentlichen Nahverkehr Moskaus herrscht Maskenpflicht, doch die Maske baumelt bei mindestens einem Drittel der Fahrgäste am Kinn oder fehlt völlig, was im Einzelfall tatsächlich zu empfindlichen Geldstrafen führen kann – 5.000 Rubel sind umgerechnet 55 Euro –, in der Regel aber vom Personal in der Metro und im Bus ignoriert wird.

Strategiewechsel im Herbst

Ohnehin sind die Masken so ziemlich das Einzige, was in Russland noch an die Pandemie erinnert. Während die russische Regierung im vergangenen Frühjahr noch einen der schärfsten Lockdowns weltweit einführte und die Russen zwang, Passierscheine für das Verlassen der Wohnung zu beantragen, so hat der Kreml spätestens seit dem Herbst seine Strategie völlig umgeworfen.

Obwohl zu der Zeit auch in Russland die zweite Covid-Welle ihren Lauf nahm, wurde das Schuljahr ganz regulär eingeläutet und die übrigen Restriktionsmaßnahmen Schritt für Schritt zurückgenommen: Die Restaurants sind seit Monaten ebenso geöffnet wie Friseursalons und die riesigen Shoppingmalls. Messeveranstalter nehmen seit Jahresbeginn ihre Tätigkeit langsam wieder auf.

Die Moskauer Stadtparks sind an den Wochenenden stets überfüllt, Kinder spielen in den Hüpfburgen, während sich ihre Eltern vornehmlich um die Imbissbuden scharen. Zuletzt durften dann auch die Nachtklubs und Karaoke-Bars wieder öffnen, und Pensionisten über 65 bekamen in Moskau ihre Freifahrtscheine zurück.

Großveranstaltung nur mit Putin

Während die Polizei noch im Jänner und Februar Strafverfahren gegen Teilnehmer der Anti-Putin-Demonstrationen in Russland unter anderem wegen Gefährdung der öffentlichen Gesundheit einleitete, trat der russische Präsident selbst im März zum siebten Jahrestag des Anschlusses der Krim im Luschniki-Stadion vor vollen Rängen auf.

Bis zum Mai sollen laut russischen Medienberichten dann die letzten Beschränkungen fallen. Der Kreml wolle sowohl das orthodoxe Osterfest (wird heuer am 2. Mai gefeiert) als auch die traditionelle Militärparade zum Tag des Sieges und den Massen-Gedenkmarsch "Unsterbliches Regiment", an dem sich vor der Pandemie bis zu eine halbe Million Menschen beteiligte, wieder im normalen Modus durchführen, heißt es. Offiziell wird die Entscheidung nach dem 20. April erwartet.

Begründet werden die Erleichterungen mit zwei Entwicklungen. Zum einen mit dem Vorhandensein eines Impfstoffs, dessen Zulassung der Kreml bereits im vergangenen Sommer öffentlichkeitswirksam verkündet hatte, zum anderen damit, dass das Infektionsgeschehen unter Kontrolle sei.

Zweifelhafte Statistiken

Die offiziellen Zahlen, die dies demonstrieren sollen, werfen allerdings Fragen auf: So hat der Covid-Operationsstab, dessen Zahlen zumeist in der Öffentlichkeit genannt werden, 100.000 Todesfälle seit Ausbruch der Pandemie dokumentiert, die Statistikbehörde Rosstat hingegen 224.000 Tote mit Covid-Erkrankung. Noch gravierender ist die Übersterblichkeit. Allein von April bis Dezember 2020 sind demnach 358.000 Russen mehr gestorben als im Durchschnitt der Vorjahre. Vor allem in den Herbst- und Wintermonaten hat Covid damit einen enorm hohen Blutzoll in Russland gefordert.

Auf der anderen Seite waren die Handlungsmöglichkeiten der Regierung beschränkt. Das vom Kreml geschnürte Hilfspaket belief sich nur auf einen Bruchteil der von westlichen Regierungen bewilligten Hilfsgelder an die Wirtschaft. Schätzungen zufolge gab der Kreml nur Erleichterungen in Höhe von 2,5 bis 3,5 Prozent des BIP – auch weil Putin nach dem zwischenzeitlichen Ölpreiseinbruch auf keinen Fall einen Staatsbankrott riskieren wollte. Da es in Russland praktisch keine soziale Absicherung in Form von Arbeitslosengeld gibt, hätte die einer zweiten Quarantäne folgende Pleitewelle soziales Elend hervorgerufen, das womöglich deutlich gravierende Folgen gehabt hätte als die über 200.000 Covid-Toten. (André Ballin aus Moskau, 9.4.2021)