Der Ringmagnet am Fermilab, der beim Myon-g-2-Experiment eingesetzt wird.
Foto: Fermilab/Reidar Hahn

Schon seit längerem ist klar, dass das Standardmodell der Teilchenphysik allein nicht reichen dürfte, um das Universum, seine Elementarteilchen und alle ihre Wechselwirkungen völlig befriedigend zu erklären. Erst vor zwei Wochen legten Physiker vom europäischen Kernforschungszentrum Cern verblüffende Messungen vor, die nicht in dieses Modell passen wollen: Das "Large Hadron Collider beauty"-Experiment (LHCb-Experiment) lieferte bei Teilchenzerfällen Abweichungen von den erwarteten Ergebnissen – ein Hinweis auf eine neuen Physik abseits des Standardmodells?

Erste Resultate

Immerhin deutet nun ein weiteres Experiment darauf hin, dass es tatsächlich bisher unbekannte Wechselwirkungen oder Elementarteilchen geben könnte. Die Myon-g-2-Kollaboration am Fermilab nahe Chicago, Illinois, hat im Rahmen gleich mehrerer wissenschaftlicher Artikel erste Resultate ihrer Untersuchungen veröffentlicht, die frühere experimentelle Hinweise auf eine solche Abweichung gegenüber der Theorie bestätigen.

Damals, im Jahr 2001, wurde am Brookhaven National Laboratory auf Long Island (New York) eine Messung des sogenannten g-2-Werts von Myonen durchgeführt. Das Myon ist gleichsam der schwere Bruder des Elektrons und existiert nur für den Millionstelbruchteil einer Sekunde. Es besitzt eine Reihe von Eigenschaften, darunter ein magnetisches Moment, also eine Art inneren Miniatur-Stabmagnet, sowie einen quantenmechanischen Drehimpuls, den Spin. Ein bestimmter Wert, der auf dem Verhältnis von Magnetstärke, Ladung, Masse und Spin des Myons basiert, wird als "g-Faktor" bezeichnet.

Mysteriöse Abweichung

Er beträgt etwa 2 (daher der Name Myon-g-2-Experiment), aber eben nicht ganz genau: Er weicht um etwa 0,1 Prozent von der einfachen Erwartung g = 2 ab, die Teilchenphysiker sprechen vom anomalen magnetischen Moment. Der allgemein akzeptierte theoretische g-Faktor des Standardmodells für das Myon beträgt 2,00233183620.

Die bisherigen Resultat des Myon-g-2-Experiments in Fermilab bestätigen, was Forscher schon vor zwei Jahrzehnten im Brookhaven National Lab beobachtet haben.
Grafik: Ryan Postel, Fermilab/Muon g-2 Collaboration

Die neuen experimentellen Durchschnittsergebnisse der Myon-g-2-Kollaboration liegen dagegen bei 2,00233184122. Ab der achten Stelle nach dem Komma ist eine Abweichung festzustellen, die für Laien unbedeutend erscheinen mag, die Teilchenphysiker aber in helle Aufregung versetzt. Der Myonenstrahl am Fermilab wurde speziell für das Experiment erzeugt und weist eine bisher nicht erreichte Reinheit auf.

Fast schon eine Entdeckung

Das Ergebnis besitzt damit eine sehr hohe Signifikanz, wenn auch nicht jene, bei der man von einer echten Entdeckung sprechen kann: Physiker beurteilen den Unterschied zwischen diesen Zahlen durch die Signifikanz der Messergebnisse, bei der auch die Unsicherheiten der Messung und der theoretischen Rechnungen berücksichtigt werden. Das Maß dafür ist die statistische Standardabweichung, die in Sigma angegeben wird. Es hat sich eingebürgert, dass man bei 3 Sigma von einem Indiz und bei 4 Sigma von einem Beleg spricht.

Bei den Fermilab-Experimenten erreichte man eine Signifikanz von 4,2 Sigma. Mit anderen Worten: Es entspricht einer Wahrscheinlichkeit von etwa 1:40.000, dass es sich um eine zufällige statistische Fluktuation handelt. Für die Elementarteilchenforschung ist eine Signifikanz von 5 Sigma die übliche Schwelle, ab der man von einer Entdeckung spricht – bei 4,2 Sigma ist man einer solchen schon recht nahe.

Video: Das Myon-g-2-Experiment am Fermilab präsentiert erste Ergebnisse.
Fermilab

Berge von Daten

Die aktuell ausgewerteten Daten stammen aus der ersten Messrunde im Jahr 2018. Die zweite und dritte Runde sind ebenfalls bereits "im Kasten". Nachdem die dritte Runde aufgrund der weltweiten Corona-Pandemie abrupt vorzeitig abgebrochen werden musste, wird derzeit die vierte Runde mit strengen Sicherheitsauflagen und weitgehend ferngesteuert fortgeführt. Eine fünfte Runde soll im Herbst 2021 starten. Um die Analysen möglichst objektiv zu gestalten, arbeiten mehrere Analyse-Teams parallel und unabhängig voneinander. Zudem kommen Techniken der Verblindung, wie man sie aus medizinischen Studien kennt, zum Einsatz.

"Wir erreichen bereits bei unserer ersten Analyse, die wir heute vorstellen, eine Genauigkeit, die schon etwas besser ist als bei dem Vorgängerexperiment – und haben dazu erst weniger als sechs Prozent des geplanten Datensatzes ausgewertet", sagt Martin Fertl von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, der am Myon-g-2 Experiment mitarbeitet. "Unser Ziel, am Ende mit dem neuen Myon-g-2-Experiment eine um den Faktor vier höhere Genauigkeit von 140 Teilen zu einer Milliarde zu erzielen, erscheint damit sehr realistisch." (red, 9.4.2021)