Auf der Suche nach dem Menschen, der hinter der Maske zum Vorschein kommt: Georges Simenon (1903–1983).

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Der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom ließ sich weiland zu dem Begeisterungsausruf hinreißen, Shakespeare habe den Menschen erfunden. Ich gehörte zu denen, die darüber nicht den Kopf geschüttelt haben.

Denn was ist der Mensch anderes als die Erkenntnis des Menschen? An den Charakteren aus Shakespeares Werk arbeiten wir uns bis heute ab. Zusammen mit den Einblicken in die Figuren von Dostojewski lag und liegt den nachfahrenden Schriftstellern genügend Material für manch guten Roman, manch gutes Drama, manch guten Film vor.

Wenn wir den Figuren dieser schöpfergottgleichen Dichter bei ihren späteren Kollegen wiederbegegnen, setzen sie uns vielleicht nicht mehr in das erste große Erstaunen, aber wir sagen über die eine oder andere doch: Sieh an, hier wurden in Shakespeares oder Dostojewskis Schöpfungen neue Facetten gefunden.

Wir, die Leser, die Zuseher, dürfen und sollen in uns nach diesen Facetten suchen. Und dann las ich einen schmalen Roman eines Dichters, der sich selbst bei aller Großschätzung wohl nicht auf eine Stufe mit Shakespeare und Dostojewski gestellt hätte, nämlich Betty von Georges Simenon, und ich geriet in den Bannkreis eines Charakters, wie ich ihn bis dahin bei keinem anderen Autor gefunden habe.

Neu erfunden

Betty ist unheimlich, ja, und mir dämmert, ich bin solchen Frauen schon begegnet, wenigstens einer, nicht zwischen zwei Buchdeckeln, sondern im Leben, und das macht, dass sich mir beim Lesen die Haare im Nacken sträuben.

Die Erkenntnis wenigstens eines Menschen ist mir durch diese Lektüre gelungen. Diesen Menschen hat Simenon für mich neu erfunden. Ich versuche es einmal so: Betty ist schön und 28 Jahre alt und Alkoholikerin. Sie ist von ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter des Hauses verwiesen worden, sie wurde in flagranti mit ihrem Liebhaber erwischt, mitten im Wohnzimmer, während die Kinder nebenan schliefen. Sie ist ausbezahlt worden.

Man hat ihr Geld gegeben dafür, dass sie sich schriftlich verpflichtet, nie mehr aufzutauchen, und somit auch, auf ihre Kinder zu verzichten. Warum? Weil sie es schamlos mit Männern treibt. Betty geht und stürzt ab. Der Autor, ihr Chronist: "Sie hatte es nicht geschafft, die Sauberste zu sein, wäre es da nicht besser, an dem Punkt, wo sie war, sie würde die Schmutzigste?"

Schluss machen, aufhören

Das ist keine originelle Geschichte, und wie ich soeben den Charakter dieser Frau skizzierte, kommt man nicht unbedingt dahinter, dass Simenon in diesem schmalen Buch eine neue Erkenntnis des Menschen gelungen ist. Jago ist nicht übermäßig intelligent, er ist ein banaler Bösewicht, wie es viele gibt; aber Shakespeare hat diesen Charakter neu definiert – ebenso wie Eichmann, ohne Umweg über die Literatur, die Banalität des Bösen neu definiert hat.

In der Person von Betty hat Simenon den Charakter des Zerstörers, in diesem Fall der Zerstörerin, neu und überraschend definiert. Betty liegt in einem Hotel, hört im Nebenraum ein Liebespaar – Simenon, der in jedem Augenblick hautnah bei seiner Figur ist, schreibt: "Sie wollte schreien, die zwei sollten Schluss machen, sollten aufhören mit dem Glücklichsein."

Als sie ihrem Mann wenige Tage nach der Trennung begegnet, "spürte sie bei seinem Anblick keinerlei Regung und war selber verblüfft, wie fremd er ihr war. Sie konnte es kaum glauben, doch sie war seine Frau, hatte sechs Jahre lang mit ihm gelebt, jede Nacht in seinem Bett geschlafen, und sie hatten zwei Kinder miteinander, die aus etwas von ihnen beiden bestanden." Ist sie ein narzisstischer Charakter? Nein. Ist sie ohne Empathie? Nein. Ist sie eine Getriebene? Nein.

Seelengeschwister

Immer wieder fiel mir beim Lesen Der Fremde von Albert Camus ein. Simenon hätte seinen Roman Die Fremde nennen können. Betty und Meursault sind Seelengeschwister. "Heute ist Mutter gestorben. Oder vielleicht gestern, ich weiß es nicht." So beginnt Camus’ Roman. Wir retten uns ins Seelenkonventionelle, indem wir sagen: ein eiskalter Mensch.

Aber damit trösten wir uns nur. Wie wir uns, bevor Hannah Arendt unseren Kopf zurechtrückte, damit trösteten, dass wir Menschen wie Eichmann "Dämonen" nannten. Dämonen kennen wir, eiskalte Menschen kennen wir. Menschen wie Betty und Meursault kannten wir nicht.

Um Himmels willen, es soll kein Vergleich dieser beiden mit Eichmann hergestellt werden! Ich sage nur: Mit diesen und jenem hat uns hier die Geschichte, da die Literatur bekanntgemacht, wir meinten, solche Exemplare unserer Gattung bis dahin nicht zu kennen. Und dann kommen wir drauf – und das ist das wahrhaft Unheimliche an Eichmann, an Meursault und an Betty, wir kannten sie doch schon. Wir trugen ihre Bilder nämlich in uns. Es waren Spiegelbilder.

Erkenne dich selbst!

Ãíῶèé óåáõôüí! – Erkenne dich selbst! – steht über dem Apollotempel in Delphi, das könnte als Überschrift über jedem literarischen Vorhaben stehen. Manchmal umfasst unsere Erkenntnis neue Facetten von Bekanntem, selten einen neuen Charakter.

Diese junge Frau Betty können wir auf keinen Begriff bringen – noch nicht, uns begegnet in ihr ein Mensch, wie wir ihn nicht für möglich gehalten haben: der absolut passive Charakter, somnambul, mit einem Hauch Schwachsinn. Wenn Robert Musil seinen Ulrich einen "Mann ohne Eigenschaften" nennt, dann umreißt er diesen Charakter, gestaltet aber hat ihn Simenon in dieser Erzählung.

Merkwürdige Gestalten

Zu Beginn des Romans treffen wir Betty in einer Kneipe, die das Trou genannt wird. Die Menschen, die dort verkehren – wir erfahren, es sind jeden Abend dieselben –, sind merkwürdige Gestalten, ihre Konturen verzogen und unscharf, weil sie uns über die Augen, die Ohren und die Haut der betrunkenen Protagonistin nahegebracht werden, Verrückte, "Spinner", wie sie der Wirt Mario nennt.

"Im Trou war keine Rede von Auflehnung. Diese Grenze war überschritten. Und es gab auch keine Möglichkeit zur Umkehr. Es war die Endstation. Die Endstation der Spinner! Letzter Halt vor dem Irrenhaus oder der Leichenhalle." Als würde uns der Autor in die Vorhölle führen, in den Limbus, wo keine Handlung mehr erlaubt ist, wo ausgelöffelt wird, was man sich eingebrockt hat. Und das ist der Roman: ein Auslöffeln.

",Woran denkst du?‘, fragte sie.

,An dich.‘

,Was denkst du über mich?‘

Er antwortete mit einer vagen Handbewegung.

,Ist sehr kompliziert.‘" (Michael Köhlmeier, ALBUM, 10.4.2021)