Das grausliche Wetter war das größte Problem. Damals, vor mehr als einem Jahr, als Corona bloß ein Smalltalk-Thema war und Caroline Drechsler, Franz Gschiegl und Mike Huber den STANDARD an unterschiedlichen Punkten entlang der Strecke des Vienna City Marathon (VCM) trafen. Die drei kennen einander nicht, doch hatten sie damals, in einer gefühlt anderen Zeit, ein gemeinsames Ziel: den Marathon am 19. April 2020 zu finishen.

Für Mike Huber (33) sollte es der erste Marathon werden. Einmal im Leben die 42,195 Kilometer bezwingen, das war sein großer Wunsch. Franz Gschiegl (65) gehört zum illustren Zirkel jener Läufer, die bisher bei jedem einzelnen Vienna City Marathon am Start waren. Er hätte zum 37. Mal die Ziellinie überquert, eine Zeit von 3:30 Stunden war angepeilt. Und Caroline Drechsler (46) träumte nach ihrem ersten Marathon, der "voller Höhen und Tiefen" gewesen war, davon, einen soliden zweiten Marathon in unter 4:30 Stunden zu absolvieren. "Alles Gute beim Lauf – man sieht sich im Ziel!", so oder so ähnlich verabschiedeten wir uns damals voneinander.

Wettkampftypen motivieren sich für Laufveranstaltungen – sie brauchen den Jubel entlang der Strecke.
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Lange Durststrecke

Aber warum träumt man davon, 42,195 Kilometer zu laufen, was irgendwann – im besten Fall natürlich erst gegen Ende hin – wehtut? Und was treibt einen an – nicht nur beim Marathon selbst, sondern auch beim monatelangen Training, das oft aus einsamen und elendslangen Läufen besteht?

Diese Fragen wollte ich damals für einen Artikel beantworten, aber auch damit ich sie mir selbst nicht erst bei Kilometer 30 stelle: Ich war ebenfalls zum VCM angemeldet, hatte meine langen Läufe abgespult und auf eine persönlichen Bestzeit spekuliert.

Es kam bekanntlich anders. Mit der Pandemie wurde der Wien-Marathon, wie fast alle Laufevents, abgesagt. Auch im heurigen Frühjahr schaut es im Laufkalender noch düster aus. Großveranstaltungen, mit denen Ambitionierte sonst die Saison eröffnen – die Marathons in Wien und Linz zum Beispiel – wurden auf den Herbst verschoben.

Das ist eine ziemlich lange Durststrecke. Der Sportwissenschafter Michael Koller von der Sportordination in Wien kennt das Motivationstief, in das manche hineingestolpert sind: "Viele Wettkampftypen sind vor einem Jahr in ein Loch gefallen", erzählt er.

Wettkampftypen, das sind jene Hobbyathleten und -athletinnen, die sich durch Laufevents motivieren. Sie trainieren darauf hin und brauchen die Stimmung am Start und den Jubel entlang der Strecke. Virtuelle Wettkämpfe, die als Alternative beworben werden, können manche von ihnen pushen. Aber nicht alle: "Bei einigen wurde ziemlich der Stecker gezogen", sagt Koller. "Und das ist jetzt auch eine Gruppe, die schwierig zu motivieren ist."

Kein Motivationstief

Ist es Mike Huber, Caroline Drechsler und Franz Gschiegl ähnlich ergangen? Ich treffe Mike Huber an einem kalten, aber sonnigen Sonntagmorgen an der Prater-Hauptallee. Huber – dunkle Laufkleidung, Stirnband, Pferdeschwanz – hat es durch das Laufen in den letzten Jahren geschafft, seinen Lebensstil umzukrempeln, gesünder zu leben und dadurch abzunehmen. Zehn Jahre lang hatte er davor so gut wie keinen Sport gemacht.

Für Mike Huber startet nun das richtige Training. Notfalls will er seinen ersten Marathon eben nur für sich laufen.
Foto: Christian Fischer

Mit dem im Vorjahr abgesagten Marathon hat Huber seine Laufumfänge zwar drastisch reduziert. Motivationstief gab es aber keines: "Der Dienstag war immer mein Fixtermin zum Laufen." Ab Mai wird er die Laufumfänge wieder erhöhen, helfen soll ein Online-Trainingsplan. Denn der Wien-Marathon ist für ihn nach wie vor das Ziel. "Ich freu mich schon darauf, zu sehen, wie viel im Training weitergeht", erzählt Mike Huber. Dass das Training funktioniert und es die Mühen wert ist, das sei ein schönes Gefühl.

Verletzung auskuriert

Für manche war die wettkampftechnische Zwangspause auch gar nicht so schlecht: Franz Gschiegl laborierte vor einem Jahr noch an einer Verletzung. Den VCM 2020 ausfallen lassen? Das war für ihn trotzdem keine Option. Mittlerweile ist die Verletzung völlig aus kuriert, wie bei einem gemeinsamen Lauf am Wienerberg mehr als deutlich wird. Und noch etwas hat sich verändert: Gschiegl, früher Geschäftsführer der Erste Immobilien KAG, ist seit Herbst in Pension und hat nun mehr Zeit zum Laufen und für Berg- und Skitouren.

Franz Gschiegl war bisher bei jedem Vienna City Marathon am Start.
Nur der letzte musste pandemiebedingt ausfallen.
Foto: Christian Fischer

"Laufen ist eine der unkompliziertesten Sportarten", sagt Gschiegl über seine Leidenschaft für den Sport. Fünf- bis sechsmal pro Woche ist er jahrelang gelaufen, sogar auf Dienstreisen in Tokio oder Kuwait, mitunter ging sich das arbeitsbedingt erst später am Abend aus. Überwindung habe das manchmal schon gekostet, gibt Gschiegl zu: "Aber wenn du draußen bist, bist du der Gewinner."

Zeit für Yoga

Die Sportwissenschafterin Antje Peuckert vom Olympiazentrum Vorarlberg erzählt auch von Hobbysportlerinnen und Hobbysportlern, denen im Corona-Jahr die bewusste Entscheidung geholfen hat, das Training nur für sich selbst zu machen und nicht für einen Wettkampf. So berichtet sie von einem Athleten, der für einen längst abgesagten "Ironman" trainierte – und diesen dann auch tatsächlich allein absolviert hat.

Caroline Drechsler hofft, heuer endlich ihren zweiten Marathon laufen zu können. Durch Corona hat sie Yoga für sich entdeckt.
Foto: Christian Fischer

Und manche haben auch schon vor Corona nicht gerne an Wettkämpfen teilgenommen. Auch Caroline Drechsler sagt von sich selbst, "eigentlich kein Wettkampftyp" zu sein, weil sie am Start immer zu nervös sei. Sie hat im ersten Lockdown aufgehört, auf ihren zweiten Marathon hinzutrainieren. Weitergesportelt hat sie trotzdem – auch um ihr Immunsystem in Zeiten einer Pandemie zu stärken: "Ich bin dann das erste Mal so richtig viel zu Yoga gekommen", erzählt sie heute. "Da ist man bei sich selber, schaut aufs Atmen und denkt an nichts anderes. Das hat mich total beruhigt."

Mittlerweile gehen ihr die Wettkämpfe aber schon ab. Erst unlängst hat sich Caroline Drechsler Fotos von ihrem bislang einzigen Marathon vor zwei Jahren angeschaut: "Auch wenn es am Schluss schon wehgetan hat, aber die letzten Kilometer, an denen mich meine Freunde angefeuert haben, waren schon auch sehr schön."

Derzeit erscheinen solche Momente in weiter Ferne. Doch Antje Peuckert schlägt vor, die entspanntere, weil wettkampffreie Frühjahrssaison auch als Chance zu begreifen: etwa um jetzt den Fokus ganz bewusst auf das bei vielen Läuferinnen und Läufern vernachlässigte Training der Rumpfmuskulatur, auf die Lauftechnik oder auf das Dehnen zu legen, um damit Verletzungen vorzubeugen.

Freude an der Bewegung

Wer sonst immer nur auf der Straße läuft, könnte jetzt etwa mal einen Berglauf probieren, auf das Rad steigen oder die Inlineskates aus dem Keller holen. Durch diese Abwechslung entwickle man eine neue Freude an der Bewegung.

Auch weil man sich damit vielleicht den Druck nimmt: "Man wird nicht durch das Training besser, sondern durch die Erholung", betont Peuckert. Auch Profis sind nicht immer in Wettkampfform. Denn Training funktioniert über das Prinzip der Periodisierung: Auf zwei oder drei trainingsintensive Wochen folgt eine Entlastungswoche, in der deutlich weniger gemacht wird. Das ist besonders für ehrgeizige Hobbysportlerinnen und Hobbysportler oft schwer zu akzeptieren, sagt Peuckert: "Dabei würde ihnen eine solche Pause beim Training manchmal sogar helfen."

Ewig lang sollten die Pausen jetzt aber auch nicht mehr sein, wenn im Herbst ein Marathon ansteht. Für Mike Huber, Franz Gschiegl und Caroline Drechsler beginnt nun also wieder eine Zeit, in der das tägliche Schrittziel locker erfüllt wird. Sie haben ein Jahr nach dem abgesagten Marathon noch immer das Ziel, die 42,195 Kilometer beim Vienna City Marathon am 12. September zu bezwingen.

Auch ich bin im letzten Jahr nie wirklich aus dem Training ausgestiegen. Der Traum, die vier Stunden beim Marathon zu knacken, motivierte mich inmitten der Lockdowns, hin auszugehen. Beim Laufen wurde mein Kopf frei, die Sorgen schrumpften – und ich lernte: Wenn ich schon nichts in der Welt kontrollieren kann, dann kann ich zumindest stetig einen Schritt vor den anderen setzen. Bis ans Ziel.

Langsam steigern

Dieses Ziel sollte man sich aber realistisch stecken. Sportwissenschafter Michael Koller mahnt all jene zur Vorsicht, die das Training im Pandemie-Jahr 2020 schleifen ließen – und vielleicht auch das eine oder andere Lockdown-Kilo zugelegt haben.

Wer jetzt beim Laufen zu schnell zu viel will, riskiert Überlastungen – und Verletzungen, die über die Corona-Pandemie hinaus gehen könnten. Daher gilt, die Umfänge und Intensitäten nur langsam zu steigern – und sich auch sportmedizinisch durchchecken zu lassen. Sportwissenschafter Koller macht Wiedereinsteigerinnen und Wiedereinsteigern aber auch Mut: "Die Form, die man im letzten Jahr verloren hat, lässt sich relativ schnell zurückgewinnen."

Wohlgemerkt: Wer jetzt ganz neu ins Laufen einsteigt, sollte sich für heuer definitiv keinen Marathon mehr vornehmen. "Konditionell würde man es bis zum Herbst wohl schaffen", sagt Antje Peuckert. Aber Knochen, Bänder und Sehnen brauchen viel, viel länger, um für eine solche Belastung bereit zu sein.

Der Pandemie davonlaufen

Ob es im Herbst wirklich wieder Marathon-Großveranstaltungen geben wird und ob man bei diesen, so wie früher, unter dem Jubel tausender Menschen ins Ziel wird einlaufen können, ist noch offen. Das weiß auch Mike Huber, der sich bereits einen Plan B überlegt hat: "Im Notfall werde ich meinen ersten Marathon halt einfach allein laufen", kündigt er an. Das wäre fünfmal vom Praterstern zum Lusthaus und zurück, rechnet er vor: "Klingt doch nicht so schlimm, oder?"

Eigentlich nicht. Davonlaufen werden wir der Pandemie mit einem Marathon zwar vermutlich nicht. Aber einen Versuch ist es allemal wert. (Franziska Zoidl, 10.4.2021)