Normalerweise kann Ralf Harun Zwick nicht viel aus der Fassung bringen. Über 20 Jahre arbeitet der Leiter der Ambulanten Rehabilitation der Therme Wien als Lungenfacharzt. Seit vergangenen Sommer betreut Zwicks Ambulanz auch Patienten nach einer Covid-Erkrankung. "Dabei können wir uns aber nicht mehr auf unsere klinische Erfahrung verlassen", sagt er.

Erst vor kurzem hat Zwick eine 32-Jährige Frau behandelt. Ihre körperliche Verfassung entsprach der einer 85-jährigen Krebspatientin. "Für Mediziner ist das ein neues Phänomen."

Viele Patientinnen und Patienten mit Long Covid klagen über Erschöpfung.
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Rund zehn bis 20 Prozent der Covid-19-Patienten leiden laut Schätzungen an Folgeschäden der Erkrankung, wobei Frauen zwischen 20 und 40 Jahren besonders häufig betroffen sind. Ihre Symptome stellen das Gesundheitssystem vor eine Herausforderung, denn selten waren Ärzte mit einem so komplexen Krankheitsbild konfrontiert.

Das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) definiert unter Long Covid eine Vielzahl von Symptomen, die mehr als zwölf Wochen nach Beginn der Infektion bestehen bleiben. "Die häufigsten Symptome sind Müdigkeit, Schwäche, Gedächtnisstörungen, Luftnot, Brustschmerzen, aber auch Kreislaufschwäche und Schlafstörungen", sagt die Kardiologin Mariann Gyöngyösi vom AKH Wien.

Da immer mehr Patienten nach einer Covid-19-Erkrankung mit diesen Symptomen die Allgemeine Herzambulanz des AKH aufgesucht haben, wurde dort unter Gyöngyösis Leitung kürzlich eine Long-Covid-Ambulanz eröffnet.

Long-Covid-Patienten werden nicht erfasst

Legt man die internationalen Schätzungen auf Österreich um, gibt es bei bisher 500.000 Covid-Erkrankten rund 50.000 Menschen, die unter Langzeitfolgen leiden. Viele, sagt Maarte Preller, wissen nicht, warum sie ständig müde sind oder plötzlich große Einschränkungen im Alltag erleben. Preller hat nach ihrer eigenen Erkrankung eine Selbsthilfegruppe für Betroffene gegründet, mittlerweile fasst sie knapp 500 Mitglieder.

"Es ist wichtig, entsprechende Behandlungsmethoden zu finden", sagt Preller. Der erste Schritt wäre es aber, Betroffene überhaupt zu erfassen. "Ich bin aktuell als Genesene geführt, da es kein System gibt, das Covid-Langzeit-Patienten einordnet." Preller hat ihre Infektion im März 2020 zuerst gut überstanden. Im darauffolgenden August kam dann der Zusammenbruch.

Bislang gibt es keine allgemeinen Guidelines für Diagnose und Behandlung von Long Covid. Im AKH versuchen Ärztinnen und Ärzte in einem ersten Schritt, mögliche Organschäden, die durch eine Covid-19-Erkrankung verursacht wurden, abzuklären. "In den meisten Fällen sind die Symptomen der Patienten aber nicht objektivierbar", sagt Gyöngyösi. "Es gibt derzeit eine intensive Ursachenforschung, wobei noch aber noch keine definitiven Ergebnisse vorliegen."

Claudia Ellert, Medizinerin, Gefäßchirurgin und Long-Covid-Betroffene, über die Langzeitfolgen einer Corona-Infektion
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Bleierne Erschöpfung

Obwohl das Virus mehrheitlich die Lunge befällt, kann es auch andere Organe schädigen – je nachdem, an welchen ACE2-Rezeptoren im Körper das Virus angedockt hat. Long Covid kann aber nur zum Teil durch Organschäden erklärt werden. "Es ist wichtig, dass wir bei Long Covid zwischen unterschiedlichen klinischen Repräsentationen unterscheiden", sagt der Neurologe Michael Stingl.

Die Patienten, die Stingl in seiner Praxis betreut, sind auch Monate nach ihrer Erkrankung zu erschöpft, um ein Buch zu lesen oder den Geschirrspüler auszuräumen. "Viele sind jung und hatten einen milden Verlauf", sagt Stingl. "Heute leiden sie unter einer bleiernen Erschöpfung, die sich oft auch durch banale Anstrengungen im Alltag vergrößert." Ihr Zustand sei aber nicht durch Organschäden, psychiatrische Diagnosen oder die körperliche Belastung aufgrund eines Intensivaufenthalt zu erklären.

Vielmehr ähneln ihre Symptome einem Krankheitsbild, das der Medizin bereits bekannt ist: dem sogenannten chronischen Fatigue-Syndrom (CFS). "Dass solche Symptome durch einen viralen Effekt ausgelöst werden können, ist nichts Neues", sagt Stingl, der sich auf die Behandlung von CFS spezialisiert hat. Wissenschafterinnen und Wissenschafter vermuten hinter den Symptomen eine überschießende Immunreaktion mit unbekannter Ursache.

Überanstrengung verschlechtert den Zustand

Wie im Fall von CFS verschlimmert sich der Zustand bei Stingls Long-Covid-Patienten, wenn sie ihren Körper zu sehr aktivieren. Erholungspausen bringen dann keine Besserung mehr. Das sei auch der Grund, warum klassische Reha-Programme im Fall von Long Covid oft nicht zu einer ausreichenden Verbesserung des Gesundheitszustandes führen. Im Gegenteil: Vielen Patienten gehe es danach sogar schlechter.

Dieselbe Erfahrung machte man in Zwicks Ambulanz. Long-Covid-Patienten sind keine einheitliche Gruppe. Um ihren Zustand zu verbessern, bedarf es maßgeschneiderter Rehabilitationsprogramme. "Nach einer Corona-Infektion braucht der Körper gezielte Therapie", sagt Zwick. Sein Team arbeitet mit Programmen zum Muskelaufbau, Atemtrainings und Traumabewältigung.

Richtige Diagnose

Im vergangen Jahr habe sich bei der Behandlung der Patienten einiges getan. Dennoch sei Zwick täglich mit verzweifelten Patientinnen und Patienten konfrontiert, die in ihrem Umfeld auf wenig Verständnis stoßen. "Es braucht eine Sensibilisierung der niedergelassenen Ärzte und Leitfäden dafür, wie man diese Patienten versorgt."

Auch seine Patienten, sagt Stingl, werden von Ärzten nicht immer ernst genommen, wenn sie von ihrer Erschöpfung erzählen. "Oft wird das als Unwilligkeit abgetan", sagt er. "Dabei kann eine Überforderung die Krankheit chronisch werden lassen."

In diesen Fällen müsse die Therapie, so Stingl, anstelle eines Leistungsansatz den Ansatz des Pacings verfolgen. Das bedeutet: Die eigenen Energiegrenzen müssen akzeptiert und Leistungssteigerung nur sehr langsam vorgenommen werden. Stingls Patienten führen deshalb Aktivitätstagebücher oder überwachen ihren Puls mittels Pulsmesser am Handgelenk.

Der Bedarf wächst

Mit den steigenden Infektionszahlen wächst auch der Bedarf an Therapieplätzen für Long-Covid-Patienten. "Ähnlich wie in den Akutspitälern müssen wir jetzt umschichten. Es werden laufend mehr Patienten", sagt Zwick. Im AKH werden derzeit fünf Patienten pro Woche behandelt. Auf der Warteliste befinden sich hunderte Personen. "Bei den derzeitigen Infektionszahlen müssen wird damit rechnen, dass täglich 200-300 Long-Covid-Patienten dazukommen", sagt Mariann Gyöngyösi. "In Anbetracht dieser alarmierenden Zahlen sind unsere Kapazitäten zu wenig."

Besonders Frauen leiden oft an Long-Covid-Symptomen.
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Erfahrungen mit Long Covid

Nach ein paar Tagen Schule kommt der Ausfall

Ein Jahr ist die Covid-Erkrankung von Sophie mittlerweile her. Gesund ist die Zehnjährige aber nicht, erzählt ihre Mutter Birgit Brunner. Angefangen hat alles im März 2020 mit einem Schnupfen. Dann hat sich der Zustand der damals Neunjährigen täglich verschlechtert. Nach Fieber kam der positive Corona-Test. Ein paar Tage später habe das Mädchen kaum noch Luft bekommen. Zum Arzt durfte die junge Vorarlbergerin damals nicht. "Man hat uns nicht reingelassen", sagt Brunner.

Nach einem Jahr leidet ihre Tochter noch immer an den Folgen ihrer rund zweiwöchigen Corona-Erkrankung. "Wenn sie am Vormittag in der Schule ist, ist sie zu Mittag völlig fertig." Nach ein paar Schultagen hintereinander sei Sophie kraftlos und müsse eine Pause machen.

Aber das ist nicht alles: "Sie hat die ganze Palette", sagt Brunner. Darunter Kopfweh, Schwindel, Herz-Kreislauf-Probleme oder Hautausschlag. Zwischendurch kommt immer wieder Fieber.

Bis Sophie als Long-Covid-Patientin eingestuft wurde, dauerte es aber. Eine "Odyssee" sei das gewesen, erzählt die Mutter: "Nur weil es Kinder sind, heißt es nicht, dass sie nix haben."

Der Geruch von faulen Eiern statt von Kaffee

Vier Tage war sie müde und schlapp – wie "bei einer schweren Grippe, aber ohne Fieber", sagt Johanna Schmid. Im November erhielt sie die Diagnose Corona. Und dann waren Geruchs- und Geschmackssinn weg. Zwei Monate schmeckte sie nichts, bis heute riecht sie kaum etwas. Und wenn etwas in ihrer Nase erkannt wird, dann ist das nicht gut. "Ich habe immer gerne Kaffee getrunken. Wenn ich ihn mir heute runterlasse, riecht das für mich, als ob es ein verfaultes Ei wäre", sagt Schmid. Wenn es nicht verfault riecht, dann gar nicht. "Ich kann nicht sagen, ob etwas ein Fisch oder Fleisch ist", sagt die Gastronomin.

Hinzu kommt die große Müdigkeit. Vor allem nach dem Essen: "Ich habe das vorher nie gehabt. Vor zwei Wochen war ich zum Essen eingeladen. Danach haben wir geredet, und auf einmal bin ich mitten im Gespräch eingeschlafen, weil ich so müde war", erzählt die 26-Jährige.

Dafür ist die Oberösterreicherin in der Nacht manchmal plötzlich hellwach. Neu sind auch Probleme mit der Dunkelheit: Da bekomme sie starke Angstzustände. "Ich weiß, es gibt dafür keinen Grund, aber ich kann dann nicht einmal aufstehen", sagt sie.

Wenn der Besuch zur Anstrengung wird

Beim Frühstück mit Freunden sei er komplett müde geworden, erzählt Daniel K. – dabei war seine Corona-Infektion mit mildem Verlauf, die er im Oktober durchgemacht hat, schon einige Wochen überstanden. Dann habe er sich ausgeruht – über Tage.

Zur extremen Müdigkeit kamen Konzentrationsstörungen. "In einem Ausmaß, das ich nicht kannte", sagt er. Wenn er müde war, habe er oft im Gespräch vergessen, was er sagen wollte.

Ende November kamen Angstzustände, Nervosität, Appetitlosigkeit und Schwindel hinzu. "Es ging nicht mehr. Wir haben eine neun Monate alte Tochter, meine Frau musste alles allein erledigen." Der 33-Jährige und seine Familie zogen vorübergehend zu seinen Eltern nach Deutschland. Dort blieb K. "so lange im Bett", bis er sich besser gefühlt habe – "und dann noch eine Woche". Mittlerweile ist er zurück in Wien und hat in die Teilzeitarbeit gewechselt. Die "Bleiweste" ist er weitestgehend losgeworden. Andere Symptome kommen und gehen. In einer Liste hält er seinen Zustand fest, Yoga und Meditation hat er in seine Morgenroutine integriert. Doch: "Ich muss meine Energie gut einteilen."

Alles geht nur noch im Schneckentempo

Rund 1000 Schritte kann Sandra Hofer mittlerweile über einen Tag verteilt gehen. Bei ihr läuft das Leben seit ihrer Covid-Erkrankung "im Schneckentempo" ab, erzählt die 46-Jährige. Im vergangenen November begann alles mit hohem Fieber und so schlimmen Kopfschmerzen, dass keine Medikamente mehr halfen. Dazu gesellten sich Probleme mit der Lunge. Auch nach der Quarantäne blieben grippale Symptome – Husten und Schnupfen habe sie bis Jänner gehabt. Dann ging es bergauf. Sie konnte im Wald spazieren gehen und fühlte sich besser.

Nach zwei Wochen im Homeoffice und mit den Kindern im Distance-Learning kam der Einbruch. Nach dem Zeugnistag lag Hofer einen Monat flach. "Sprechen und Essen war sehr anstrengend", erzählt die Niederösterreicherin. Bis heute leidet sie immer noch an Müdigkeit, Herzrasen, Kurzatmigkeit. "Kochen geht nur noch im Sitzen. Auch vor der Waschmaschine habe ich einen Stuhl – sonst komme ich nicht mehr die Stiegen hinauf nachher", erzählt sie. Besonders schlimm sei die "Hilflosigkeit, das Aussichtslose", sagt sie: "Weil man nichts machen kann außer warten." (Eja Kapeller, Oona Kroisleitner, Julia Palmai, 12.4.2021)