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Zero Covid, also gar kein Corona, hätten viele Menschen gern. Es wird aber zunächst eine Sehnsucht bleiben.

Foto: AP / Markus Schreiber

Immer mehr Menschen weltweit verfolgen ein ehrgeiziges, für viele auch utopisches Ziel im Kampf gegen Corona: null Infektionen. Die Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung "Zero Covid" koppeln dieses Ziel an Solidarität mit sozial Benachteiligten.

Die Verfechter der Virus-Nulldiät wollen drei Wochen lang das Leben komplett herunterfahren. Kontaktbeschränkungen soll es nicht nur im Privatleben und in der Freizeit geben, sondern vor allem in der Arbeitswelt.

"Wir müssen die gesellschaftlich nicht dringend erforderlichen Bereiche der Wirtschaft für eine kurze Zeit stilllegen. Fabriken, Büros, Betriebe, Baustellen, Schulen müssen geschlossen und die Arbeitspflicht ausgesetzt werden" – bei vollem Lohnausgleich, heißt es in einem Aufruf an die österreichische, die deutsche und die Schweizer Regierung.

Kritik am "halbierten Lockdown"

Titel des Aufrufs: "Drei Wochen bezahlte Pause statt dritter Welle". Kritik üben die Initiatoren am "halbierten" Lockdown. Dieser verbiete das Privatleben größtenteils und schone das Wirtschaftsleben.

Am Freitagabend versammelten sich Befürworter dieser Strategie in Wien vor der ÖVP-Zentrale. Mitarbeiterinnen aus dem Gesundheitswesen, Betriebsräte sowie Mitglieder von linken Gruppen wie Attac oder der Linken Wien waren bei der von Arbeiterkammerrätin Selma Schacht moderierten Kundgebung. Rund 350 Personen waren, in großen Sicherheitsabständen, anwesend. Alle trugen FFP2-Mundschutz.

"Die Bundesregierung legt ausschließlich auf körperliche Gesundheit und Wirtschaft ihr Augenmerk. Doch dies ist eine Pandemie, die Hand in Hand geht mit einer großen Wirtschaftskrise", sagte Schacht dem STANDARD vor der Kundgebung, "wir müssen auch die psychischen und sozialen Bedürfnisse im Auge behalten. Es gibt genug Konzepte, wie man das Virus ohne massive soziale Verwerfungen und psychische Auswirkungen einbremsen kann."

Die Gewerkschaften "dürfen sich nicht spalten lassen", so Schacht, "man muss sich klar distanzieren von den Schwurblerdemos aus dem rechten Eck und von der klar neoliberalen Chaospolitik der Bundesregierung".

Online-Demo

In Deutschland folgt der Aktionstag am Samstag. In vielen Städten halten auch dort die Aktivisten Kundgebungen ab, abends ist eine Online-Demo (via Youtube und Instagram) geplant. Man sitzt zu Hause und hört dort den Rednerinnen und Rednern zu – idealerweise nicht in einer Gruppe, sondern allein oder mit Abstand.

Das wird auch David Schrittesser, ein aus Österreich stammender Mathematiker an der Universität Toronto (Kanada), tun. Auch ihn stört, dass es vor allem im privaten Bereichen Einschränkungen gibt. "Man sieht in der Pandemie, dass die wirtschaftlichen Interessen Vorrang haben", sagt er.

Schrittesser zählt zu den Erstunterzeichnern der Online-Petition "Zero Covid: Für einen solidarischen europäischen Shutdown". Diese unterstützen auch Krankenpfleger, Publizisten und Künstler, etwa die Autorin Stefanie Sargnagel. Bis Freitagnachmittag gab es knapp 110.000-mal Zustimmung.

"Solidarischer Lockdown"

Ebenfalls Erstunterzeichnerin war die HNO-Ärztin Daniela Litzlbauer aus dem niederösterreichischen St. Valentin. Sie initiierte im Jänner auch schon einen Brief an die österreichische Bundesregierung, in dem sie einen harten Lockdown forderte. Hätte man das damals gemacht, wäre die Situation etwa auf Wiener Intensivstationen jetzt nicht so dramatisch, glaubt Litzlbauer, die sich wegen der Wirkung von Mutationen auf Kinder sorgt.

"Dass es jetzt so eskaliert, haben alle ernstzunehmenden Wissenschafter vorausgesagt", sagt Litzlbauer, "kein Land auf der ganzen Welt hat es geschafft, die Pandemie bei hohen Zahlen in den Griff zu bekommen."

Prominente Befürworter der Zero-Covid-Strategie sind zudem die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer sowie Christian Zeller, Professor für Wirtschaftsgeografie an der Universität Salzburg. Viel Unterstützung kommt auch in Deutschland aus dem linken politischen Spektrum, neben Attac und Gewerkschaften auch von der Linken-Bundestagsabgeordneten Simone Barrientos.

In den Forderungen nach einem "solidarischen Lockdown" schwingt jede Menge Kapitalismuskritik mit. Nach den Vorstellungen von "Zero Covid" sollen Unternehmen, die von der Pandemie profitieren, eine "Corona-Sonderabgabe" leisten, ebenso wie Menschen mit hohen Vermögen.

Kapitalismuskritik

Damit soll nicht nur die Arbeitspause bezahlt werden, sondern auch die Unterbringung Obdachloser in Einzelzimmern. Die Herstellungsanleitungen für die Impfstoffe sollen zudem mit der Weltgemeinschaft, über die WHO, geteilt werden. Die "sozialistische" Tageszeitung Neues Deutschland schrieb vom Kampf der Zero-Covid-Initiative gegen den "kapitalistischen Seuchenstaat".

Wenig oder am besten gar kein Covid – das wünschen sich viele Menschen. Bei Befürwortern des etwas weniger strengen "No Covid" ist das Ziel nicht null Infektionen, sondern eine 14-Tage-Inzidenz von rund zehn – aus heutiger Sicht auch ein weit entferntes Ziel.

Kritiker halten dies für eine Utopie. "Europa ist so verwoben, man kann es nicht einfach wie Australien oder Neuseeland abschotten", sagt Gerald Gartlehner, Departmentleiter für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation an der Donau-Uni Krems.

Insel-Argument

Das Insel-Argument greift freilich nicht bei Ländern wie China, Vietnam, Südkorea oder den Provinzen der kanadischen Atlantikküste, die bis dato mit ähnlichen Strategien erfolgreich waren. Man müsse sich auch anschauen, was Länder wie Neuseeland "außer Lockdowns gemacht haben: Contact-Tracing, das bei hohen Zahlen versagt, und wirklich kontrollierte Quarantänen", betont Litzlbauer.

Doch auch der Wiener Simulationsforscher Nikolas Popper ist skeptisch: "Zwar kann eine kurze, harte Maßnahme hilfreich sein, wenn man das als Ziel definiert, um die Infektionszahlen nach unten zu drücken. Aber wir haben es mit einem dynamischen System zu tun, das heißt, die Zahlen steigen danach wieder. Man muss in der Pandemiebekämpfung immer wieder nachsteuern und neu regeln."

Dazu heißt es in der Zero-Covid-Petition: "Um einen Pingpong-Effekt zwischen den Ländern und Regionen zu vermeiden, muss in allen europäischen Ländern schnell und gleichzeitig gehandelt werden." (Birgit Baumann, Colette M. Schmidt, 9.4.2021)