"Normalerweise hatte ich einen Sessel neben dem des Ratspräsidenten, aber manchmal kam ich auch auf dem Sofa zu sitzen." Jean-Claude Juncker

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Ursula von der Leyen blickte fragend um sich, schließlich musste sie am Sofa Platz nehmen.

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Wenn es nach dem ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker geht, dann gibt es nicht allzu viel darüber zu diskutieren, ob sich nun am Dienstag in Ankara ein "Sofagate" ereignet hat oder nicht: Vom Standpunkt des Protokolls sei es jedem – Politico zitiert Juncker auf Englisch, da ist das geschlechtsneutral, "every one" – klar, dass der Ratspräsident die Nummer eins und der Kommissionspräsident die Nummer zwei sei. Wenn er, der Vorgänger von Ursula von der Leyen, mit Donald Tusk oder Herman Van Rompuy (Ersterer Ratspräsident 2014–2019, Letzterer 2009–2014) unterwegs gewesen sei, dann habe er das respektiert.

DER STANDARD

"Normalerweise hatte ich einen Sessel neben dem des Ratspräsidenten, aber manchmal kam ich auch auf dem Sofa zu sitzen." Also kein fragendes "Ähem" von Juncker wie jenes, das von der Leyen entfuhr, als sich der türkische Präsident Tayyip Erdoğan und Ratspräsident Charles Michel im Präsidentenpalast auf die bereitgestellten zwei – zwei! – Sessel setzten und sie selbst aufs Sofa verwiesen wurde. Diskussion beendet?

Das ist sie nicht, wie nicht nur der Aufruhr in den sozialen Medien, sondern auch die Stimmen im Europaparlament zeigen: Wobei nicht nur Erdoğan, sondern auch Michel sein Fett abbekommt, der mit dem Arrangement ebenso zufrieden schien wie der türkische Präsident. Der Eindruck, der sich durch die sicht- und hörbare Reaktion von der Leyens noch verstärkte, ist auch gar nicht zu leugnen: Die Frau darf vom Sofa aus zuhören, wie die beiden Männer über Politik reden.

Manchmal ist es eben nicht nur eine Frage des Protokolls, sondern auch der Sensibilität und der Flexibilität. Man würde ja auch gerne die Frage der "Manieren" ins Spiel bringen. Der Dame den Platz anbieten? Aber würde das nicht bedeuten, dass eine Kommissionspräsidentin protokollarisch anders behandelt werden müsste als ein Kommissionspräsident, einfach weil sie eine Frau ist? Ernsthaft? Oder würden wir die Sitzordnung auch beanstanden, wenn es sich um eine Konstellation "Ratspräsidentin und Kommissionspräsident" gehandelt hätte? Bei allem Türkei-Bashing: Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass das türkische Protokoll in diesem Fall nicht der Frau den Sessel und dem Mann das Sofa zugeteilt hätte. Müsste dann sie ihm den Platz anbieten?

Herablassung und Häme?

Worin besteht also der "Unfall" – den die beiden Seiten, Türken und EU-Diplomaten, einander zuschieben und ihn damit ja eigentlich noch bestätigen? Ganz eindeutig einmal im Zusammenfallen von "Inszenierung und Inhalt": Die EU-Spitze hatte mit Erdoğan unter anderem den Austritt der Türkei aus der Europarat-Frauenrechtskonvention zu besprechen. Das Thema, das Setting – und das Macho-Image dieser türkischen Regierung: Da drängt sich eben vielen der Eindruck auf, dass die Herablassung und sogar Häme gegenüber einer Politikerin durchaus willkommen, wenn nicht gar beabsichtigt waren.

Oder gar der EU und ihren Institutionen gegenüber? Die Europäische Union hat ja mit deren Schaffung versucht, die Henry Kissinger zugeschriebene Frage "Wen muss ich anrufen, wenn ich Europa anrufe?" zu lösen (wäre er noch US-Außenminister, müsste er heutzutage den Außenbeauftragten Josep Borrell anrufen).

Andere Staaten – zumal sehr hierarchisch organisierte – nehmen das gerne auf. Demnach hat der türkische Präsident ein Gegenüber in der EU, und das ist der Ratspräsidenten. Über Präsident(in) Nummer zwei zerbricht man sich nicht so den Kopf. Es hat ziemlich lange gedauert, bis Nicht-EU-Staaten diese Strukturen überhaupt halbwegs verinnerlicht hatten. EU-Diplomaten in aller Welt oder auch Diplomaten, deren Land gerade die rotierende EU-Präsidentschaft innehat, können ein Lied davon singen: Wer ist jetzt bei euch was, vertritt wen und macht was?

Und manchmal wissen sie es vielleicht selbst nicht so genau, vor allem wenn es sich um ein Gemisch von residenten und begleitenden Diplomaten handelt. Auch das dürfte hier eine Rolle gespielt haben: Die EU-Vertretung in Ankara sagt, sie konnte den Raum, in dem sich das Sofagate ereignete, gar nicht inspizieren. Die Mitarbeiter des Ratspräsidenten sagen, sie hätten ohnehin eine egalitäre Sitzordnung verlangt und Ärgeres verhindert. Die Mitarbeiter der Kommissionspräsidentin waren nicht zugegen. Und das türkische Protokoll sagt, der Sofa-Vorschlag stammt eigentlich ohnehin von den EU-Leuten.

Charles Michel wiederum beschuldigt das türkische Protokoll der zu strikten Interpretation der Regeln. Hat man ihm jedoch wahrlich nicht angesehen, dass er sich damit unwohl fühlte – das bedauert er mittlerweile.

Köpfewaschen im Team

Von der Leyen ließ wissen, sie habe ihrem "Team" mitgeteilt, dass so etwas nicht mehr passieren dürfe. Man darf also davon ausgehen, dass da nach Dienstag auch auf europäischer Seite ein paar Köpfe gewaschen wurden.

In Corona-Zeiten sind Sofas wie jenes, auf dem Ursula von der Leyen landete, zumindest ziemlich leer. Im normalen Besuchsbetrieb nehmen je nach Vereinbarung über das Format des Gesprächs auf der Sofa- oder auch Sesselgalerie begleitende Diplomaten Platz, die untereinander ganz gut wissen, wer wohin gehört. Aber es ist natürlich auch immer eine Frage der persönlichen Gelassenheit, ob sich einer oder eine darüber aufregt, ob ein anderer, eine andere weiter vorne landet, wo er/sie eigentlich nicht hingehört.

Fauxpas, Kopfschütteln, kleinere oder größere Aufregungen gibt es immer wieder. Diplomatinnen wissen klarerweise auch über machistische Vorfälle zu berichten: Meist passieren diese jedoch auf individueller und nicht auf institutioneller Ebene, also nicht ausgehend vom jeweiligen Gaststaat.

Protokoll ganz persönlich

Im Nachhinein können sie sogar witzig sein. Die damalige Geschäftsträgerin der österreichischen Botschaft Bagdad – ich – fährt mit der EU-Missionschefin in einem gemeinsamen Auto zum Nationalfeiertagsfest eines EU-Landes. Im Wagen dahinter unsere Stellvertreter, zwei Herren. Vor der Zufahrt zur Anlage steht die (europäische) Security, stoppt uns, winkt den zweiten Wagen nach vorne und will ihn hineinfahren lassen: "Prinicipals only!" Dass die "Chefs" die zwei Frauen waren – und nicht die Männer im Auto dahinter –, lag auch für den Europäer nicht auf der Hand.

Die protokollarische Hierarchie spiegelt auch nicht immer die wahren Machtverhältnisse wider – und hat dadurch manchmal etwas Egalitäres. Österreichische Geschäftsträgerin der (winzigen) Botschaft in Bagdad reist mit dem Vizebotschafter der (riesigen) Botschaft Großbritanniens zu einem offiziellen Kurdistan-Besuch. Zwei amerikanische Blackhawks für den Briten, die österreichische Kollegin darf halt mitfliegen.

Aber: Ich war Missionschefin, mein britischer Kollege, ein Mann mit bedeutender diplomatischer Karriere, war Nummer zwei seiner Botschaft, das heißt, bei unseren gemeinsamen Auftritten in Kurdistan hatte ich Vorrang. Wahre diplomatische Größe – und Humor – zeigt sich gerade in schrägen Situationen. Wir haben die absurde Situation mit viel Anmut absolviert. (Gudrun Harrer, 10.4.2021)