Komponist Lukas Ligeti (Jahrgang 1965).

Foto: Markus Sepperer

Wer bei der Performance dabei war, wurde zum "mitsummenden" Teil einer komponierten Sozialskulptur: Lukas Ligeti, 2015 Artist in Residence im Polin, dem Museum der Geschichte polnischer Juden, hatte ja in Warschau seine Wort-Klang-Ideen als Mix aus Konzertstück und begehbarer Klanginstallation angelegt. That Which Has Remained ... That Which Will Emerge ... war aber nicht nur eine auf Teilhabe abzielende Komposition, bei der die Musiker per Kopfhörer vom mitspielenden Dirigenten Ligeti mit Material und Anweisungen versorgt wurden.

Es war natürlich auch eine – auf Basis von gesammeltem dokumentarischen Material gewachsene – Begegnung zwischen Historie und Gegenwart. Für Ligeti selbst befasste sich das Stück, das nun auf CD erschien (bei Col Legno), auch mit der Frage, wie "sich die Kultur der Unterdrückung und dem Genozid widersetzen und apokalyptische Zustände überdauern kann".

Viele Gespräche

Als unsichtbare "Mitmusiker" waren für das spielende Ensemble – per Kopfhörer vernehmbar – von Ligeti befragte Menschen mit ihren Gedanken, Sätzen und Erinnerungsmelodien dabei. Der Sohn des Jahrhundertkomponisten György Ligeti hatte im Vorfeld Gespräche mit 20- bis 98-Jährigen geführt. Sie sollten sich an das jüdische Leben in Warschau erinnern – und dies auch singend. "Ich denke, für sie war es eine Gelegenheit, sich direkter in Erinnerungen einzuleben. Besser als bei einem üblichen Gespräch."

Es wäre aber, so der in den USA lebende Wiener, "zu beachten, dass die meisten meiner Interviewpartner den Holocaust nicht erlebt hatten." Nur Henryk Prajs und Krystyna Rosikoń-Kochanowska, "die inzwischen gestorben sind", hatten diese Phase erlitten. "Natürlich gab es aber auch in der kommunistischen Zeit und danach Probleme mit Antisemitismus!"

Weit gefasste Erfahrungen

Andererseits sei "das jüdische Leben nicht ausschließlich eine Beschäftigung mit dem Antisemitismus", so Ligeti, der verdeutlicht, dass sein Werk Erfahrungen einbeziehen will, die über den einen historischen Erfahrungspunkt hinausreichen.

Wer sich auf Ligetis Kosmos aus Sprache, Melodik, Improvisation und Klangverfremdung einlässt, vernimmt zudem, dass die Komposition auch abseits politisch-historischer Thematik funktioniert. Ligetis Konzeption erschuf eine traumhafte Assoziationslandschaft. Sprachpartikel, Klezmer-Sounds, rhythmische Patterns und Überlagerungen von Strukturen bewirken durch spontane Verschmelzung ein atmosphärisch dichtes Gesamtkunstwerk.

Der Kosmopolit

Da fließt einiges an Erfahrung mit ein: Der Kosmopolit Ligeti, der eine Professur an der University of California (Irvine) innehat, war in der New Yorker Downtown-Szene aktiv, spielte u. a. mit John Zorn. Seine Stücke sind vom Kronos Quartet ebenso interpretiert worden wie vom Ensemble Modern. Essenziell war für Ligeti auch die Erforschung der afrikanischen Musik, die er als Schlagzeuger mit Formationen wie Beta Foly und Burkina Electric umgesetzt hat.

Ligeti glaubt jedoch nicht, "Polystilist" zu sein. "Ich ziehe meinen Ideen nur gerne verschiedene Gewänder an. Ich denke zwar sehr konzeptuell, gleichzeitig ist mir aber das Musikalische, sogar Musikantische wichtig", sagt Ligeti, der aus seinem Projekt That Which Has Remained ... doch auch außermusikalische Erkenntnisse mitnahm.

Kunst bringt zusammen

"Interessant war, Jüngere kennenzulernen, die keine Angst hatten, sich in die Sache emotional zu involvieren." Auch habe sich gezeigt, dass es möglich ist, "dokumentarisch-historiografische und künstlerisch-kreative Arbeit zu vereinen, ohne dass Ersteres einfach zum Zweiteren erklärt wird. Forschung an sich ist keine Kunst."

Sicher sei aber auch: "Kunst kann Räume schaffen, die Menschen zusammenbringen, was gefährlichen gesellschaftlichen Tendenzen entgegenwirkt, in dem etwas Neueres, Besseres aufgezeigt wird. Eine Alternative zu Hass und Verwüstung", die auch Ligetis Familie erlitten hatte. (Ljubiša Tošic, 10.4.2021)