Die Rapidler Ercan Kara und Filip Stojkovic durften am Sonntag nach ihrem Zusammenprall weiterspielen – der Serbe wurde erst zwölf Minuten später ausgewechselt. Laut Trainer Dietmar Kühbauer sah er Doppelbilder, ein Symptom einer Gehirnerschütterung.

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Szenen wie diese kommen in jedem Fußballspiel zigfach vor. Die Konsequenzen sind oft nicht gleich greifbar, könnten aber gravierend sein.

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Der Gerichtsmediziner wusste nicht, was seine Diagnose auslösen würde. 2002 stellte Andrew Haigh bei dem verstorbenen Ex-Profifußballer Jeff Astle einen "death by industrial disease" fest – einen durch den Beruf verursachten Tod. Haigh führte Astles Hirnschäden direkt auf die unzähligen Kopfbälle des Stürmers zurück, fast 20 Jahre später sagt er dem STANDARD: "Es war für mich ein klares Urteil."

Astles Tochter Dawn wurde zur beharrlichsten Kämpferin für mehr Aufmerksamkeit für Kopfverletzungen im Fußball. Lange Zeit schwieg der englische Fußballverband FA das Thema trotzdem weg. Geforscht wird zu den Konsequenzen von Kopfbällen und Gehirnerschütterungen im Fußball seit den 1990ern immer wieder, die Ergebnisse widersprachen einander aber oft. Viele Studien hatten eine schwache Methodik und zu kleine Stichproben. Die FA hatte nach Astles Obduktion versprochen, das zu ändern – vergaß darauf aber lange.

Der Nachweis

Mit der von der FA und der Spielergewerkschaft PFA beauftragten "FIELD study" der Uni Glasgow kam im Oktober 2019 die späte Korrektur. Laut der Studie erkranken Fußballer mit dreieinhalb Mal höherer Wahrscheinlichkeit an Demenz. Die Stichprobe war mit 30.000 Männern groß. Unterstützende Ergebnisse kamen von der Mail on Sunday, die vergangenen November die Todesursachen sämtlicher Erstligakicker der Saison 1965/66 untersuchte. Laut deren Erhebung starben 42 Prozent von 185 Ex-Fußballern an Ursachen, die mit traumatischen Hirnverletzungen zusammenhingen.

Gerne wird argumentiert, die alten Lederbälle seien viel schwerer gewesen. Das mag teilweise stimmen. Sie flogen aber auch wesentlich langsamer. Und laut Neurologen ist das Tempo des Balles ein ebenso großer Faktor für die Einwirkungen der Kopfbälle auf das Gehirn. Zudem sind Mädchen und Frauen gefährdeter, im Sport Gehirnerschütterungen zu erleiden – und der Frauenfußball wächst.

Langer Stillstand

Trotz all dem bewegt sich auf der Verbandsebene wenig. "Sie haben dieses riesige Problem ignoriert. Der Verband und die Spielergewerkschaft haben nicht ansatzweise genug getan", klagte der Ex-Profi Chris Sutton im März vor dem britischen Parlament. Suttons Vater, ebenso Fußballer, starb an Demenz. Der heute von Maheta Molango abgelöste PFA-Chef Gordon Taylor habe laut Sutton "Blut an seinen Händen". Astle nannte die Forschungsförderungen einen Tropfen auf den heißen Stein. Wohlgemerkt ist der englische Verband noch der aktivste.

Würden Ligen und Verbände die Verbindung ihres Sports zu Hirnschäden anerkennen, müssten sie mit Schadenersatzklagen rechnen. In England sind bereits zwei in Vorbereitung. Die American-Football-Liga NFL wollte einen Zusammenhang jahrzehntelang unterdrücken, mittlerweile hat sie fast eine Milliarde Dollar an Ausgleichszahlungen geleistet.

Vorreiter

Angehörige von an Demenz und anderen Hirnerkrankungen leidenden Ex-Spielern fordern mehr Geld für die Forschung, Sofortmaßnahmen wie ein Trainingslimit für Kopfbälle und temporäre Wechsel bei Verdacht auf Kopfverletzungen. Die Vorreiter sind Großbritannien und die USA, wo Profiligen derzeit zwei Extrawechsel beim Verdacht auf Kopfverletzungen prüfen. Kinder dürfen im Training nicht mehr köpfeln.

Der österreichische Fußballverband ÖFB empfiehlt im Kinderfußball nur "äußerst eingeschränktes" Kopfballtraining, zudem soll es "ausschließlich mit Softbällen und Luftballons geübt werden". Auch in der Trainerausbildung soll die Thematik verstärkt vermittelt werden. Kopfballtraining zu streichen, könnte Konsequenzen haben, wenn Kinder im Match weiter köpfeln würden. Ein korrekt gespielter Kopfball ist ungefährlicher als ein wackliger ohne Nackenspannung. Das Pilotprojekt in England und den USA verfolgt der ÖFB "aufmerksam". Nach einer Analysephase wird über weitere Schritte entschieden.

Wenn es kracht

Noch gefährlicher als Kopfbälle selbst sind Zusammenstöße im Luftduell oder Zweikampf. Es sind diese Szenen, die jeder Fußballfan kennt: Eckball, drei Spieler springen vorbei, einer trifft den Ball, der andere nur mehr den Kopf – und beide bleiben liegen. Besonders kritisch wird die Lage dann, wenn Sportler mit einer Gehirnerschütterung weiterspielen. Das wollen in der Hitze des Gefechts die meisten.

Der Beispiele sind sonder Zahl, das bekannteste ist wohl der Deutsche Christoph Kramer: Er fragte nach einem Zusammenprall im WM-Finale von 2014 in Rio Schiedsrichter Giuseppe Rizzoli, ob dies denn das WM-Finale sei. Erst der Referee sorgte dafür, dass Kramer ausgewechselt wurde.

Bedenkliches in der Bundesliga

Hierzulande gab es erst gestern Bedenkliches zu sehen: Der Rapidler Filip Stojkovic geisterte nach seinem bösen Zusammenstoß mit Ercan Kara noch zwölf Minuten über das Feld. Erst als er sich ein drittes Mal hinsetzte und an den Kopf griff, wurde er ausgewechselt. "Stojkovic hat doppelt gesehen", sagte Trainer Dietmar Kühbauer nach dem Spiel – Doppelbilder sind ein klassisches Symptom einer Gehirnerschütterung.

Einen Monat zuvor war eine ähnliche Szene im Wiener Derby Thema: Rapid-Stürmer Taxiarchis Fountas schien kurz bewusstlos gewesen zu sein, durfte aber weiterspielen – laut Rapid-Aussendung mit "Zustimmung" von Klubarzt Thomas Balzer. Für Österreichs Spielergewerkschaft VdF ist es ein No-Go, dass Spieler oder Trainer bei solchen Entscheidungen mitreden dürfen. Über das Weitermachen solle ausschließlich der Arzt entscheiden. "Es geht darum, schwerwiegende Folgeschäden zu vermeiden", sagt Oliver Prudlo vom VdF.

Lebensgefahr

Die Vorsicht hat gute Gründe. Eine weitere Gehirnerschütterung kann verheerende Folgen haben. Spätfolgen sind wahrscheinlicher, die Regenerationszeit kann deutlich länger werden. Wie grausam das ist, weiß jeder, der einmal eine Gehirnerschütterung auskurieren musste. Im schlimmsten Fall kann es zum Second Impact Syndrome (SIS) kommen – beim SIS schwillt das Hirn rapide an, es endet meist tödlich. Gefährdet sind hauptsächlich Kinder und Jugendliche. (Martin Schauhuber, 12.4.2021)