Am 15. April jährt sich zum zweiten Mal der Brand von Notre-Dame, der die ganze Welt erschütterte.

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Geht es nach Präsident Emmanuel Macron, soll die Kathedrale bis zu den Olympischen Sommerspielen 2024 wieder frei von Baugerüsten sein.

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Dafür werden im ganzen Land 2.000 Eichen gefällt.

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Auch Bäumen ist kein ewiges Leben beschieden. Pfarrer Amaury de la Motte Rouge segnet die hohe Eiche mit einem Kreuz, dann machen sich die Holzfäller ans Werk. In wenigen Minuten fällt der Stamm, der hundert Jahre lang gewachsen war, mit einem gewaltigen Rauschen und Krachen zu Boden. Als er aufschlägt, erzittert der ganze Wald von Vibraye, unweit der französischen Stadt Le Mans.

Der Eichenstamm ist einer von 2.000 Artgenossen, die ab 2024 das neue Dachgebälk der berühmtesten Kathedrale der Welt bilden sollen, die am Donnerstag vor zwei Jahren Opfer eines Großbrands geworden ist. Vertreter des Branchenverbandes France Bois Forêt bestimmen und nummerieren derzeit Bäume im ganzen Land. Von Korsika bis an den Ärmelkanal, vom Elsass bis in die Bretagne soll jede französische Region, jeder passende Großwald vertreten sein.

Im Wald von Vibraye herrscht das Hochgefühl, zu einer Mission von mindestens nationaler Bedeutung beigesteuert zu haben. Die gefällte Eiche sei eine der schönsten des ganzen Bestands – schnurgerade und genau zentriert, freute sich der Baumverwalter Bernard D’Harcourt in der Lokalzeitung L’Echo sarthois. Die Baumfällung, fügte er an, sei paradoxerweise ein Zeichen, dass "das Leben trotz des Dramas weitergeht und Notre-Dame wiederauferstehen wird".

"Ökozid und Absurdität"

Nicht alle sind so euphorisch. Eine nationale Petition hält sich darüber auf, dass so viele, teils jahrhundertealte Bäume dem Wiederaufbau eines noch so speziellen Gebäudes geopfert werden. "Im Zeitalter der nachhaltigen Entwicklung stellt das einen Ökozid und eine Absurdität dar", heißt es in dem Schreiben, das 42.000 Menschen unterzeichnet haben. "Ein hundert Jahre alter Baum ist Teil unseres Kulturerbes; er stellt ein Ökosystem für sich allein dar. Unser Planet ist in Gefahr, unser Wälder leiden unter dem Klimawandel, weshalb dieser Entscheid unverständlich ist."

Die Worte sind stark, der Erfolg der Petition hält sich allerdings in Grenzen. Der Wiederaufbau der Kathedrale geht in Frankreich vor. Und die gefällten Bäume bilden laut dem Nationalen Forstamt gerade mal 0,1 Prozent der jährlichen "Eichenernte" zu Gewerbezwecken. Überhaupt sei die Waldfläche in Frankreich wie in ganz Europa heute am Zunehmen, sagen Förster.

Die Petition verlangt den Einsatz von "verantwortungsvollen, weniger schädlichen Ingenieurtechniken" als eine Holzkonstruktion. Konkreter wird sie nicht – denn Alternativen gibt es kaum. Die Kathedralen von Reims und Nantes sind mit viel Beton restauriert worden. Im Fall von Notre-Dame bestand aber rasch ein Konsens, dass der Wiederaufbau "à l’identique" – also wie vor dem Brand – zu erfolgen habe.

Kein Schwimmbad auf dem Dach

Diese Vorgabe hat Emmanuel Macron im letzten Sommer offiziell bestätigt. Nachdem der Präsident anfangs einem zeitgenössischen Neuprojekt den Vorzug gegeben hat, schließt er sich nun der Meinung der Experten und der breiten Öffentlichkeit an. Das bedeutet zugleich das Aus für gewagte Restaurierungsideen wie ein Biotop oder ein Schwimmbad auf dem Kathedralendach.

Zwei "halbindustrielle" oder "betonunterstützte" Gegenvorschläge wurden in einer internen Abstimmung fallengelassen. Alberic de Montgolfier, Vorsteher der französischen Architekturkommission, freut sich über die Wahl der Option Holz. Das mittelalterliche Gebälk sei zudem bestens dokumentiert, erklärte er. "Man kann es exakt nachbauen."

Noch genauere Pläne bestehen vom Vierungsturm, den der Architekt Eugène Viollet-le-Duc im 19. Jahrhundert auf dem Dachfirst platziert hatte – und der bei dem Brand spektakulär in das Kirchenschiff gestürzt war. Dieser hohe, fein ziselierte Dachreiter ist viel dünner als die beiden wuchtigen Glockentürme aus Stein an der Kirchenfront, aber er sitzt auf einer sehr exponierten Stelle des steilen Dachs. Allein tausend Eichenstämme sind nötig, um ihn in das Dachgebälk einzubauen und eine Höhe von 93 Metern über der Seine zu erreichen.

Weitere tausend Eichen dienen dem Wiederaufbau des eigentlichen Dachstuhls. Da das Gebälk von Grund auf neu errichtet werden muss, wird es genau wie im 13. Jahrhundert aussehen. Später erfolgte Reparaturen können weggelassen werden. Die Zimmerleute werden die Holzarbeiten teils wie im Mittelalter ausführen. Die Baumstämme werden zwar mechanisch zersägt – im Giebel aber mit Äxten und Handsägen eingepasst, wie es die Kathedralenbauer vor 800 Jahren überlieferten.

Macron drückt aufs Tempo

Während sie sich beim Bau ihrer himmelsstrebenden Gotteshäuser noch Zeit gelassen hatten, eilt es nun: Präsident Emmanuel Macron will die einst vielbesuchte Basilika zu Beginn der Olympischen Sommerspiele im April 2024 wieder öffnen. Die Eichenstämme können deshalb nur zwölf bis 18 Monate trocknen. "Wie früher, als auch ‚grünes‘ Holz eingesetzt wurde, können sich die Balken und Sparren noch leicht verformen", erklärt Emmanuel Maurin vom Forschungslabor der historischen Monumente (LRMH). "Es ist wichtig, die besten Bäume auszuwählen und sie richtig zu bearbeiten", sagt der Wissenschafter, der nach dem Brand wochenlang als einziger Holzexperte Zugang zur Brandruine der Notre-Dame hatte. "Die Bäume müssen deshalb absolut gerade sein, und der Mittelpunkt der Balken muss dem Mittelpunkt des Stammes entsprechen."

Das genüge allerdings noch nicht, führt Maurin aus: Die Holzfachleute müssten parallel dazu die Verformung der trocknenden Balken antizipieren. Das sei schwierig, aber genauso möglich wie im Mittelalter, als die Schreiner keine Software mit zukunftsorientierten Algorithmen zur Seite gehabt hätten. "Das Holz trocknet als Faustregel jährlich einen Zentimeter in die Tiefe. Es ‚arbeitet‘ also noch sehr lange, bis ein neues Gleichgewicht entsteht. Es vorauszusehen, erfordert Erfahrung und ein Gefühl für das Material", meint Maurin.

Ob die Kathedralenbauer von heute so gut waren wie ihre Vorgänger vor 800 Jahren, wird sich also erst in vielen Jahren zeigen. Aber Notre-Dame hat Zeit: Sie wird für die Ewigkeit gebaut. (Stefan Brändle aus Paris, 14.4.2021)