Im Jahr 1864 meinte der Wiener Mediziner Auspitz in einer wissenschaftlichen Abhandlung, die Kuhpockenimpfung habe sich seit ihrer Einführung "rasch über alle civilisierten Länder verbreitet, ohne dass die thörichten Einwürfe verschiedener Schriftsteller irgendwelcher Aufmerksamkeit gewürdigt worden wären". Solche Feststellungen von Zeitgenossen lassen es so erscheinen, als ob die "Zivilisierung" die Trennlinie zwischen der Durchsetzung der Impfung oder deren Scheitern sei. Tatsächlich hatte sich die Impfung auch in den von Europa als "unzivilisiert" wahrgenommenen Weltgegenden durchsetzen können. Umgekehrt herrschte auch in Europa Angst vor.

Die Angst vor dem Antichristen

"Unser Herrgott woa a ned g’impft", soll ein steirischer Bauer noch in den 1880er-Jahren gesagt haben, als er zur Impfung aufgefordert wurde. Religiöse Vorstellungen wurden lange mit der Impfung in Verbindung gebracht – nicht nur in der vermeintlich "unzivilisierten" außereuropäischen Welt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bei der Impfung gegen die Pocken wurden meist am Arm Ritzungen vorgenommen, mit denen das Impfserum "eingeimpft" wurde. Eine Zeitlang verbreitete sich die Vorstellung, man würde damit dem "Antichristen" verfallen. Diese Idee bezog sich auf das neue Testament und die Offenbarung des Johannes: Dort taucht die Kennzeichnung der Menschen ebenso auf wie Geschwüre, die sich mit den "Impfpocken" in Verbindung bringen ließen. Schon 1817 berichtete der österreichische Priester Priegl, dass beim Antichristen von Zeichnungen gesprochen werde, die zu seiner Zeit an den Körpern seiner Anhänger vorgenommen werden. Die Menschen würden die Impfung daher ablehnen.

Das zeichenhafte Böse

Dieser Glaube an das zeichenhafte Böse, das durch die Impfung seinen Ausdruck finde, war nur ein Aspekt der Impfgegnerschaft. Auch das Argument, wonach die Impfung ein Eingriff in den Willen Gottes sei, blieb lange aufrecht. 1863 schrieb der Vordenker der deutschen Impfgegner, Carl Gottlob Nittinger (1807–1874): Könne ein Arzt nicht gesund machen, so dürfe er auch nicht krank machen, denn so greife er auf frevelhafte Weise in das Majestätsrecht Gottes ein. Die Kirche als Institution war seit Beginn des 19. Jahrhunderts auf die Seite des Staates gezogen worden, organisierte Impfgegner konnten daher kaum mehr mit religiösen Argumenten operieren. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine organisierte Impfgegnerbewegung, die informierte und agitierte. Gerüchte wurden verbreitet, dass die mit Kuhpockenlymphe geimpften Kinder nach und nach Physiognomie und Stimme des Rindviehs annehmen würden. Die Kritiker, die in den meisten Schriften der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftreten, attackierten das Prinzip der Impfung gleichsam von innen heraus und sprachen der Impfung ihre Wissenschaftlichkeit ab.

Impfgegner im Jahr 1869.
Foto: Medical Library. Coll. of Physicians, Philadelphia

Oftmals waren es tatsächlich Ärzte, die selbst gegen die Impfung Stimmung machten. Viele Argumente aus den frühen Jahren wurden immer wieder bemüht. Zu den Vorurteilen, die sich auf die Schädlichkeit der Impfung bezogen, zählte, dass durch die Impfung der Typhus befördert werde und, wie der französische Arzt Carnot noch in den 1840er-Jahren mit großer Breitenwirkung behauptete, die Kindersterblichkeit seit Einführung der Kuhpockenimpfung sogar gestiegen sei.

Solche Meinungen hielten sich lange, auch wenn sie durch neue Erkenntnisse längst widerlegt waren. Manchmal standen ganz simple materielle Interessen hinter der Gegnerschaft: Manche Ärzte seien Gegner der Impfung geworden, weil durch die gefahrlose Praxis der Kuhpockenimpfung die einträgliche Praxis der "Inokulation" verloren gegangen sei.

Die nahe Erfahrung

Noch weit bedeutender erscheint in einer akribischen Analyse des Umgangs mit der Impfung in Baden-Württemberg die Bezugnahme auf eben jene göttliche Vorsehung, die schon eine Generation zuvor von Anton de Haen thematisiert worden war. Das Argument, die Impfung sei ein Eingriff in den göttlichen Willen, taucht zwischen 1801 und 1817 in den württembergischen Quellen nahezu durchgehend auf, stellte der deutsche Medizinhistoriker Eberhard Wolff fest. Ab den 1820er-Jahren scheinen diese Ansichten langsam zu verschwinden. Weil die Menschen die Erfahrung gemacht hatten, ihr Leben ohnehin nicht beeinflussen zu können, sei das Ergeben in Gottes Willen zunächst eine Verarbeitung dieser Erfahrung gewesen. Erst als sich der Erfolg der Impfkampagnen gezeigt habe, habe diese Bindung an ein Erklärungsmuster ihr Ende gefunden. Das Argument ist schlüssig und auch die Schlussfolgerung: Keineswegs sei es zulässig, von einer "fatalistisch geprägten Mentalität" zu sprechen, denn die Menschen hätten sich angesichts der positiven Erfahrung durchaus zur Impfung bewegen lassen. Die Schlussfolgerung des Historikers Wolff: Es kommt auf die "nahe Erfahrung" an, die das Kennenlernen einer Neuerung ermögliche. Vielleicht auch eine Lehre für die Gegenwart. (Marcel Chahrour, 14.4.2021)