"Marmor, Stein und Eisen schmilzt, wenn du deinen Body buildst!" Die EAV wusste darüber schon in den 1980er-Jahren ein Lied zu singen.

Foto: EPA

Der Algorithmus spült uns Tag für Tag Werbungen ins Haus. Sie weisen darauf hin, dass sich jemand da draußen für unser Kaufverhalten interessiert und dieses optimieren will. Gnade Gott jenen, die online Nordic-Walking-Stecken oder Mittel gegen Haarausfall bestellen. Algorithmen können auch perfider eingesetzt werden: Sie halten fest, ob eine Person eventuell das Falsche kauft – und in der Folge auch tut. In China etwa sorgt das sogenannte Sozialkreditsystem dafür, das Verhalten der Bürger nicht nur zu überwachen, sondern staatlich zu reglementieren.

Jeder Bürger bekommt Bonus- oder Maluspunkte fürs Bravsein oder für Übertretungen der Norm. Als schlecht erweist sich etwa, wenn man Alkohol kauft, dekadente westliche Kultur konsumiert oder dank hunderter Millionen Überwachungskameras gesehen wird, wie man bei Rot über die Straße geht.

"Das Leben wird einfacher"

Mittels Informationsauswertung von Handys, Computern oder Gesichtserkennungssoftware soll der Bürger optimiert werden. "Wer einen guten Kredit hat", so die Website China Credit, "dessen Leben wird einfacher." Auch positives Verhalten wird registriert: Die Oma besuchen, Blutspenden, chinesische Produkte kaufen. Diesbezügliches Fehlverhalten wird hart bestraft. Man verliert etwa seine Kreditkarte oder darf nicht mehr mit Flugzeug oder Bahn verreisen. Man erfährt davon unter anderem in Marian Donners Essay Das kleine Buch der Selbstverwüstung.

So weit ist es im freien Westen noch nicht gekommen. Allerdings funktioniert das Überwachungssystem subtiler und perfider. Man nimmt die Bürger mit entsprechend allumfassend verbreiteten Botschaften in die eigene Pflicht. Warum auch groß einen sündteuren Überwachungsstaat aufbauen, wenn das jeder Einzelne für sich selbst regeln kann und muss? Die Zauberworte der Zeit lauten nicht erst seit den Einschränkungen durch die Pandemie Selbstoptimierung, Selbstdisziplin und auf jeden Fall Systemerhaltung. Wer nicht funktioniert, ist bald einmal draußen.

Dies, so die These, führt möglicherweise zwar zu einer Verbesserung des gesellschaftlichen Umgangs. Derzeit führende Diktatoren und wohl auch diverse gemäßigtere Staatenlenker werden das auf jeden Fall bestätigen. Bei chinesischen Fabriksarbeitern wird etwa auch mit Helmen experimentiert, die die Hirnströme messen, um etwaig auftauchende Stresssymptome frühzeitig zu erkennen. Kurz eingeschobene Arbeitspausen können so die betriebliche Effizienz und Produktivität steigern. Allerdings wird die Welt sehr wahrscheinlich dadurch nicht zu einer besseren.

"Greif nach den Sternen"

In unseren Breiten wirken Ausgangssperren und Lockdowns dagegen fast rührend. Noch. Viel besser funktioniert es, wenn man beim Einzelnen den dringenden Wunsch erzeugt, sich selbst zu einem besseren Menschen zu machen. Der Körper muss fit sein und gestählt werden, um den harten Anforderungen des Alltags standhalten zu können. Body- und Mindshaping, Motivations-Apps, Selbsthilfebücher, Youtube-Kurse von Influencern im esoterischen Konsumbereich, Meditation für Eilige, Schrittzähler, Work-outs, Durchhalteparolen im Fitness-Center und im Fernsehen.

"Gesund in den Frühling", "Zehn Wege zum Glück", "Nichts ist unmöglich", "Greif nach den Sternen", "Relax if you can", "Don’t feed the monkey in your brain": An all den Depressionen, Burnouts und unerfüllbaren Ansprüchen im Privaten wie im Beruf sind nicht die Leistungsgesellschaft und der Perfektionsdruck von außen Schuld. Es ist der innere Schweinehund. Leute, reißt euch zusammen, positiv denken! Marian Donner: "Wenn dein Chef dich mies behandelt, sagst du dir, dass er es bestimmt auch nicht leicht hat. Und du führst ein Dankbarkeitstagebuch."

"Gewalt der Positivität"

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben innerhalb der letzten drei Jahrzehnte Depressionen und Angsterkrankungen um mehr als 40 Prozent zugenommen. Das war noch vor Corona. Depression gilt als Volkskrankheit. Der Medikamentenkonsum steigt. Als Ursache gilt nicht unbedingt eine zu hohe Dosis an Negativität. Ein Übermaß an der "Gewalt der Positivität" (Byung-Chul Han) trägt dazu bei. Der selbstauferlegte Zwang, glücklich und erfolgreich sein zu müssen, hier liegt der Hund begraben.

Auch der israelische Starphilosoph Yuval Noah Harari malt in 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert nicht in Rosa. Bald werden die Algorithmen uns hinsichtlich unserer Gefühle, Ängste und Wünsche besser kennen als wir uns selbst.

Wie diesem Druck entkommen? Leistung verweigern oder die bedrohte Kulturtechnik des Sichgehenlassens könnten hilfreich sein. Zwischendurch ein fester Rausch statt Vitaminen und Steroiden wird von wichtigen literarischen Tunichtguten von jeher empfohlen. Statt Apple Watch Schwitzen auf einer Party durch zweckfreies Tanzen. Für immer nie vernünftig, das ist die Losung. Es geht um alles. Es geht um nichts. Laut Oscar Wilde sind jene die Schlimmsten, "die am meisten Gutes tun wollen." Das ist die Wahrheit. Sie ist bitter. (Christian Schachinger, 13.4.2021)