Der Treppelweg entlang des Donaukanals in der Wiener Innenstadt war im Vorjahr noch ein beliebter Treffpunkt – und am 28. Mai auch Schauplatz eines blutigen Streits, der für einen 28-Jährigen eine Anklage wegen Mordversuchs zur Folge hatte.

Foto: Christian Fischer

Wien – "Warum stechen Sie einem Menschen mit einer abgebrochenen Bierflasche in den Hals?", fragt Sonja Weis, Vorsitzende des Geschworenengerichts, Mohamed A. , den Angeklagten. "Ich habe einen Fehler gemacht, es tut mir leid", lässt der 28-Jährige übersetzen. "Darum geht es nicht. Warum haben Sie das gemacht?" – "Ich habe mich gewehrt. Er hatte eine Kette und eine Bierflasche", versucht A. zu erklären, dass er am 28. Mai nur in Notwehr gehandelt und nicht, wie angeklagt, einen Mord versucht habe.

Das Opfer ist der 21 Jahre alte Ismail M. – er wurde damals nach ausgiebigem Alkoholkonsum am Ufer des Donaukanals um 3.06 Uhr von der Rettung ins Allgemeine Krankenhaus gebracht. Laut Gerichtsmediziner Christian Reiter mit einer zwei bis vier Zentimeter langen, stark blutenden Stichwunde im Hals. Überraschenderweise handelte es sich laut Reiter medizinisch gesehen aber um eine leichte Verletzung. Wiewohl ein Stich in dieser Region potenziell natürlich lebensgefährlich sei.

Monatelang untergetaucht

Für die von Ursula Schrall-Kropiunig vertretene Staatsanwaltschaft ist klar, wie die Verletzung zustande gekommen ist. Angeklagter A. habe M. bei einem Streit den Zacken einer abgeschlagenen Flasche in den Hals gerammt. Danach sei A. geflüchtet und bis 7. November untergetaucht, ehe er zufällig bei einer Polizeikontrolle erwischt wurde. Nach seiner Festnahme behauptete A. zunächst, das Opfer nicht zu kennen und nie am Tatort gewesen zu sein, was durch DNA-Spuren widerlegt werden konnte.

Vorsichtig ausgedrückt spricht auch gegen den Angeklagten, dass er bereits vier Vorstrafen hat. Seit 2013 wurde er wegen Vergewaltigung, zweimal wegen Körperverletzung und einmal wegen schwerer Körperverletzung verurteilt. Und in drei der vier Fälle war eine Bierflasche das Tatwerkzeug.

"Er hat ein bisserl ein Problem mit Bierflaschen. Vor allem mit dem Inhalt", gibt Verteidiger Alexander Philipp daher auch unumwunden zu. "Alle bisherigen Taten sind unter Alkoholeinfluss passiert." Das bedeute aber nicht, dass es diesmal nicht tatsächlich Notwehr sein könne. Philipp kann diesbezüglich auch – nicht wörtlich gemeint – einen überraschenden Trumpf aus dem Ärmel seines Talars ziehen: Fotos von drei Verletzungen, die sein Mandant A. im Zuge der Auseinandersetzung davongetragen haben soll. Verursacht von M., gegen den er sich nur verteidigt habe.

Alkoholkonsum auf dem Treppelweg

Unbestritten ist, dass M. und ein weiterer Mann damals mit Bier und Jägermeister am Donaukanal gesessen sind, als der Angeklagte dazustieß. Alle drei Männer stammen aus Somalia und kannten sich zumindest vom Sehen her. Der Angeklagte, sagt, M. sei immer aggressiver geworden. Die Stimmung sei eskaliert, er und M. hätten sich wechselseitig Unhöflichkeiten bezüglich ihrer Mutter an den Kopf geworfen. M. habe ihm einen Tritt verpasst und schließlich eine Bierflasche auf dem Boden zerschlagen und ihn mit Stichbewegungen bedroht.

Damit nicht genug: M. habe auch seine massive Kette vom Hals genommen und diese als Schlagwerkzeug benutzt. "Er hatte in der einen Hand den Flaschenhals und in der anderen die Kette und hat mich angegriffen", behauptet der Angeklagte. Er habe daher auch eine Flasche abgeschlagen und M. in der dynamischen Situation unglücklich am Hals erwischt. Als er das Blut sah, sei er davongerannt, zunächst in seine Unterkunft, anschließend zu seiner Freundin.

Die 31-Jährige sagt als Zeugin, sie habe am Morgen des 29. Mai die Verletzungen des Angeklagten mit ihrem Tablet fotografiert und zeigt sie Gerichtsmediziner Reiter. Warum sie die Bilder nicht bereits am Morgen des 28. Mai gemacht hat? "Er war so betrunken und hat die ganze Zeit geschlafen", erklärt die Zeugin.

Drei Verletzungen gegen eine

Sachverständiger Reiter nutzt eine Verhandlungspause auch dazu, die noch immer sichtbaren Narben des Angeklagten zu begutachten. Und kommt zu einem recht eindeutigen Schluss: A. habe eine zehn Zentimeter langen Schnitt im Brustkorbbereich erlitten, einen Stich in den linken Unterbauch – und zeige auf der linken Körperseite 15 bis 20 Zentimeter lange Abdrücke und Abschürfungen, die von einer Kette stammen könnten. Zusammenfassend sagt der Experte zu den Verletzungen von M. und A.: "Ich denke, es wurde wechselseitig mit zerbrochenen Glasflaschen hantiert." Auf die Frage einer Geschworenen, ob A. sich die Verletzungen selbst zugefügt haben könnte, hält Reiter es beim Schnitt und Stich für möglich, beim Kettenabdruck dagegen für äußerst unwahrscheinlich.

M. beteuert als Zeuge jedoch, keinerlei aggressive Handlungen gesetzt, geschweige denn Waffen verwendet zu haben. A. sei damals erschienen und habe ihn von Beginn an beschimpft. Irgendwann habe der Angeklagte ihm die Halskette abgerissen, dann mit dem Flaschenhals bedroht und schließlich zugestochen. Woher die Verletzungen des Angeklagten kommen, kann der Zeuge, der 3.410 Euro Schmerzensgeld will, sich nicht erklären.

Unbeteiligter Zeuge kommt aus Untersuchungshaft

Der dritte Mann am Tatort wird aus der Untersuchungshaft in den Saal gebracht – der 26-Jährige soll im Februar in eine Messerstecherei verwickelt gewesen sein. Er war im Mai von der Polizei zunächst als Beschuldigter einvernommen worden und hatte damals gesagt, sowohl A. als auch M. hätten zertrümmerte Bierflaschen in der Hand gehabt. Diesmal wird er noch konkreter: M. habe den Streit begonnen und auch als Erster zur Waffe gegriffen.

Der Richterinnensenat legt den Geschworenen eine ganze Bandbreite an Fragen vor, zwischen denen sich die Laienrichter entscheiden müssen. War es ein Mordversuch? Versuchte absichtliche schwere Körperverletzung? Versuchte schwere Körperverletzung? Und vor allem – war es Notwehr?

Die Laienrichter glauben mehrheitlich M. und sprechen den Angeklagten mit sechs zu zwei Stimmen wegen Mordversuchs schuldig. Eine Notwehrsituation sehen nur zwei Geschworene, sechs verneinen sie. A. wird zu 13 Jahren Haft verurteilt, zusätzlich werden zwölf Monate und 24 Tage aus einer offenen Vorstrafe und einer bedingten Entlassung widerrufen. Während die Anklägerin mit der Entscheidung zufrieden ist und einen Rechtsmittelverzicht abgibt, meldet Verteidiger Philipp Nichtigkeit und Berufung an, das Urteil ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 12.4.2021)