Judy Mardnli kam über die Flüchtlingsinitiative More an die Kunstuniversität Linz.
Foto: Jasmin Petrowisch

Unfreiwillig auf dieser Reise, die in die Szenen der Ungerechtigkeit führte. Der Vorhang öffnet sich, ohne zu fragen. Ich befinde mich plötzlich inmitten eines Theaters, in einer Rolle, die ich mir niemals freiwillig ausgesucht hätte. Szene für Szene dirigiert das Schicksal den Lauf der Dinge, und ich habe keine andere Wahl, als mit ihm zu gehen.

Bis zu seinem sechsten Lebensjahr ist die Welt von Judy Mardnli in Ordnung. Dann verlieren seine Eltern aufgrund unglücklicher Umstände ihr ganzes Geld. Die Familie stürzt in Armut und muss mehrmals übersiedeln – von Aleppo nach al-Hasaka, von al-Hasaka nach Qamishli. Der Bub muss in die arabische Schule gehen, wo der Lehrer die Kinder schlägt, er als Kurde kein Wort versteht und seine Muttersprache nicht sprechen darf. Seine Zuflucht ist das Zeichnen.

Judy Mardnli hat Sehnsucht nach Kunst, doch sein Vater möchte, dass er Lehrer wird. So studiert er Anglistik und Amerikanistik und findet Inspiration in der englischen Literatur. Nach einem kurzen Moment der Sicherheit beginnt im März 2011 der Bürgerkrieg in Syrien. Im Juli 2014 ist der junge Mann mit dem Studium fertig und soll in den Krieg ziehen. Seine Eltern schicken ihn stattdessen auf die Flucht.

Zehn Meter lange Malerei

Was er erlebt, bis er von Syrien über das Flüchtlingslager Traiskirchen zufällig in Oberösterreich landet und Asyl bekommt, hat er sechs Jahre später in seiner Diplomarbeit an der Kunstuniversität Linz mit dem Titel "Unfreiwillige Reise – ein Bildertheater in ungerechten Szenen" in einer zehn Meter langen Malerei und einem poetischen Text verarbeitet. Daraus stammt auch das Eingangszitat. Vor kurzem präsentierte er seine Diplomarbeit im Kunstmuseum Lentos der Prüfungskommission.

Schwarze Tinte, schräge Vögel: Ausschnitt aus dem zehn Meter langen Bildertheater von Judy Mardnli.
Foto: Kunstuniversität Linz / Judi Mardni

Beim Besuch in seinem kleinen Atelier im vergangenen März rollt Judy Mardnli sein Bild Stück für Stück auf, wie seine Geschichte. Links beginnt die Reise mit einem großen Schuh in schwarzer Tinte. Ein kleiner Mann, eine Frau in langem Kleid (die Mutter), ein Maisfeld, Wachtürme, geisterhafte Menschen mit spitzen Hüten, ein bedrohlicher Wald, Enge, Wartende, ein Buch.

Judy Mardnli erzählt von seiner Flucht durch ein Minenfeld in der Türkei, einem 22-stündigen Marsch durch einen Wald, von der Ungewissheit, der Müdigkeit und einer langen Fahrt in einem stockdunklen Lkw, aus dem er plötzlich in Österreich ausgespuckt wird.

Das Einzige, was er aus seinem alten Leben mitnehmen konnte, wenn auch ramponiert von der Flucht, ist ein Buch: Common Mistakes in English – eigentlich wollte er nach England. Ganz rechts auf dem Gemälde sind Berge, ein See und Möwen zu sehen – das Salzkammergut als Symbol des neuen Lebens.

Nichtfarbe Schwarz

Judy Mardnli erzählt, dass er in Syrien bunte Bilder gemalt hat. In Österreich, wo er dank der More-Initiative für Geflüchtete der Universitäten-Konferenz an der Kunstuniversität Linz endlich Kunst studieren kann, greift er zum ersten Mal zur Nichtfarbe Schwarz. Er experimentiert als Erster in der Klasse von Ursula Hübner mit Tinte und Toner auf Fotopapier, er malt, zeichnet und druckt mit Acryl, Siebdruck und Pyrografie immer wieder Landschaften, um sich die neue Heimat zu erarbeiten.

Er entdeckt den südafrikanischen Künstler William Kentridge und fühlt sich sofort mit ihm verbunden: "Er hat sich sehr mit der sozialen Ungerechtigkeit beschäftigt, und es ist eine Art von Dunkelheit in vielen seiner Werke, welche meine Begegnung mit der Dunkelheit spiegeln."

"Wir leben alle auf einer Bühne"

Aber, "man soll positiv denken, man soll dankbar sein für das, was man hat", sagt Judy Mardnli mehrmals. Neben der künstlerischen Arbeit ist der 32-Jährige zum Broterwerb Erzieher in einer Volksschule und einer Neuen Mittelschule. So hatte das Drängen seines Vaters, auf dass er Lehrer werde, doch Sinn.

"Wir leben alle auf einer Bühne. Wir können uns unsere Rolle nicht aussuchen, nicht die Hautfarbe, nicht den Namen. Aber wir können uns entscheiden, wie wir sie spielen", ist Judy Mardnlis Philosophie.

Beim Abschied fällt der Blick auf den Abendhimmel jenseits seines kleinen Atelierfensters, an dem er, wie er erzählt, eine Weile zwei schwarze Krähen mit Zwieback gefüttert hat, bis sie plötzlich verschwanden. Der Himmel ist rosa und türkis – wie in Judy Mardnlis Diplomarbeit. (Sonja Bettel, 20.4.2021)