Ökonom und Publizist Fred Luks warnt in seinem Gastkommentar davor, ständig auf "Bedeutsamkeitsbehauptungen, Umbruchfantasien und Katastrophenszenarien" zu setzen.

Die Klimaerwärmung stellt unsere Lebensweise infrage. Die Digitalisierung revolutioniert die Wirtschaft. Und die Corona-Krise bringt überhaupt alles durcheinander. Ja, wir leben in turbulenten Zeiten. Wer an einer nachhaltigen Entwicklung interessiert ist, kann die Notwendigkeit einer umfassenden gesellschaftlichen Transformation kaum übersehen. Nicht umsonst wird gerne der Satz Barack Obamas zitiert: "Wir sind die erste Generation, die den Klimawandel am eigenen Leib spürt, und wir sind die letzte, die etwas dagegen tun kann."

Im Kampf gegen die Klimakrise wird immer eindringlicher vor der Katastrophe gewarnt. Tragen derartige Mobilisierungsversuche zu einer Verbesserung bei – oder eher nicht?
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Die Frage ist, wie eine Transformation Richtung Nachhaltigkeit gelingen kann. Im Diskurs darüber mehren sich Stimmen, die nicht auf Hoffnung und gesellschaftliche Such- und Lernprozesse setzen, sondern auf Dramatik und Umbruchfantasien. Ein prominentes Beispiel ist Klaus Schwabs und Thierry Mallerets Buch Der große Umbruch, das ob seines Originaltitels The Great Reset sogleich Gegenstand zahlreicher Verschwörungsmythen wurde.

Der Philosoph Toby Ord sieht uns am "Abgrund". Sein Interview im STANDARD ziert eine Schlagzeile wie ein Donnerschlag: "Wir leben in der wichtigsten Phase der Menschheit". Im Text selbst heißt es dann: "Wir leben wohl in der wichtigsten Zeit in (sic) der Menschheit, die es je gab und je geben wird." Halten wir uns nicht mit dem relativierenden "wohl" auf und wenden uns dem Ewigkeitsanspruch der Aussage zu. Der ist, bei allem Respekt, größenwahnsinnig.

Interessanter als diese Diagnose ist wohl die Frage nach dem politischen Nutzen von Bedeutsamkeitsbehauptungen, Umbruchfantasien und Katastrophenszenarien. Dieser Nutzen ist überaus begrenzt, wie die zahlreichen Berichte des Club of Rome ebenso zeigen wie unzählige Nachhaltigkeitskonferenzen. Sprachliche Eskalation nutzt sich schnell ab. Beim Thema Klima beispielsweise muss man fragen, was der immer wieder gehörte Ruf "Wir haben nur noch zehn Jahre Zeit!" bringen soll, wenn diese zehn Jahre vorbei sind und diese Mahnung nicht befolgt wurde. Geben wir dann den so wichtigen Kampf um den Klimaschutz auf? Gewiss nicht.

"Viel produktiver ist die Einsicht, dass es auch hier und heute plausible Hoffnung auf gelingenden Wandel geben kann."

Die Frage ist dann, warum die Behauptung der historischen Einmaligkeit unserer Lage auf eine Nachfrage stößt. Das 1986 erschienene Buch Lebenszeit und Weltzeit des deutschen Philosophen Hans Blumenberg kann auf der Suche nach der Antwort helfen. Das einschlägige Kapitel trägt den sprechenden Titel Apokalypse und Paradies. Wie für unsere Zeit formuliert schreibt Blumenberg darin vom "Ärgernis", das darin liege, dass die Welt nun mal über unsere Lebenszeit hinaus besteht: "Jede Divergenz von Lebenszeit und Weltzeit enthält potenziell dieses Ärgernis; nur so ist zu verstehen, welch geringen Aufwandes an Rhetorik und Einfallskraft es bedarf, dies als Emotion und Motion zu mobilisieren."

Diese Rhetorik greift immer mehr um sich. Wie gesagt: Zu einer Verbesserung der Welt tragen diese Mobilisierungsversuche nicht bei. Zum persönlichen Wohlbefinden aber auch nicht – jedenfalls nicht nachhaltig. Vielmehr gilt es auszuhalten, dass die Welt schon vor uns da war und – bei allen sehr großen Problemen – gewiss auch nach uns existieren wird. Dazu braucht es, schreibt Blumenberg an anderer Stelle, die "Fähigkeit zur Relativierung des eigenen Lebens." Diese Form der Gelassenheit würde auch aktuellen Diskursen über Klima und Corona guttun. Relativierung heißt nicht Verharmlosung, sondern vernünftige Einordnung.

Plausible Perspektive

Womöglich verschafft uns ein Blick in die Geschichte eine plausible Perspektive auf die Dramatik des Hier und Heute. In der Literatur über gesellschaftliche Transformationen werden immer wieder die Abschaffung der Sklaverei und die Einführung des Frauenwahlrechts zitiert – ohne Frage Veränderungen von welthistorischer Bedeutung, nicht wahr? Etwas drastischer: War der Kampf gegen den Faschismus wirklich weniger dramatisch als die Probleme des frühen 21. Jahrhunderts? Die Landung der Alliierten am Omaha Beach 1944 weniger "wichtig" als der Kampf gegen die Klimaerwärmung?

Derlei Hitlisten der Bedeutsamkeit sind natürlich höchst absurd. Worauf ich hinauswill: Man sollte, wenn man an einer Verbesserung der Welt interessiert ist, die verbreitete Sehnsucht nach Sinn, Orientierung und Wichtigkeit nicht mit Narrativen historischer Einmaligkeit bedienen. Viel produktiver ist die Einsicht, dass es auch hier und heute plausible Hoffnung auf gelingenden Wandel geben kann. Gerade der Blick in die Geschichte zeigt, dass es politische "Wunder" immer wieder gegeben hat: Sklavenbefreiung und Frauenwahlrecht sind dafür ebenso eindrückliche Beispiele wie die friedliche Abschaffung des Apartheidregimes in Südafrika oder die deutsche Wiedervereinigung.

Diese "Wunder" waren das Ergebnis langer und mühevoller Kämpfe und Auseinandersetzungen. Ein Bewusstsein von diesen Transformationsbeispielen ist mit Sicherheit produktiver als die eitle Behauptung der historischen Einmaligkeit unserer Lage. Der groteske Glaube, unsere Zeit sei die bedeutsamste, "die es je gab und je geben wird", ist sinnlos und bringt uns nicht weiter. (Fred Luks, 14.4.2021)