Ein Angeklagter wurde knapp außerhalb der Kernzonengrenze in der Schnellbahn ohne Ticket erwischt. Der weitere Verlauf der Kontrolle wird zum Fall für das Strafgericht.

Foto: Matthias Cremer

Wien – Angeklagter Mahdi A. versteht die Welt nicht. "Das ist eine Lüge, was in der Einladung zum Gericht steht", erklärt er Richter Georg Allmayer, dass er die Anklage für falsch hält. Dem 21-Jährigen wird vorgeworfen, im Sommer einen Zugbegleiter in der Schnellbahn verletzt zu haben, als dieser ihm eine "Fahrgeldnachforderung", so der ÖBB-Fachbegriff für die Schwarzfahrstrafe, ausstellen wollte.

A. erzählt, er sei in Fahrtrichtung Korneuburg unterwegs gewesen und habe eigentlich in Wien-Strebersdorf aussteigen wollen. Aus Unachtsamkeit verpasste er die Station, daher stieg er in Langenzersdorf aus, um die eine Station retour zu fahren. Sein Problem: Er hatte nur eine Jahreskarte der Wiener Linien, Langenzersdorf liegt aber außerhalb der Kernzonengrenze, er hätte 1,80 Euro in ein eigenes Ticket investieren müssen.

A stop too far

Wie es der Herr mit den Hörnern und dem Pferdefuß wollte, kam es in der Garnitur zu einer Kontrolle. A. sagt, er habe dem Zugbegleiter Florian H. seinen Fehler erklärt und seine Jahreskarte gezeigt. Der Bundesbahnen-Bedienstete sei recht unfreundlich gewesen und habe seine Daten von der Wiener-Linien-Karte abgeschrieben, behauptet der Angeklagte. Der staatenlose A. wollte wie geplant in Strebersdorf aussteigen und daher seine Karte retour haben. H. wollte sie nicht hergeben, habe ihn in den Sitz gestoßen und sei auf ihn gefallen. Daraufhin habe ein zweiter, fünf bis zehn Meter entfernter, Zugbegleiter auf H.s Aufforderung die Polizei verständigt, auf die man in der Station Brünner Straße wartete.

Der 22-jährige Zeuge H. schildert eine bedeutend dramatischere Geschichte. Der in ÖBB-Uniform vor Gericht erschienene Zugbegleiter sieht sich als Opfer eines Gewaltaktes. "Ich war im Kontrollbereich tätig und habe den Angeklagten nach Langenzersdorf kontrolliert. Laut Tarifbestimmungen hätte er ein Ticket vorweisen müssen, er hatte aber nur eine Jahreskarte."

Von hinten gepackt

"War von Strebersdorf die Rede?", will Richter Allmayer wissen. Der Zeuge glaubt nicht. "Ich habe ihm gesagt, dass die Fahrgeldnachforderung 105 Euro bei sofortiger Zahlung beträgt, wenn ein Kunde das nicht zahlen kann oder will, kommt ein Erlagschein mit zusätzlichen 30 Euro Bearbeitungsgebühr." Er habe auf seinem Tablet gerade die Daten von A.s Jahreskarte eingegeben, als der ihn plötzlich mit beiden Armen von hinten gepackt habe. "Er wollte mir seine Fahrkarte entreißen!", ist der Zeuge empört.

Es habe ein längeres Gerangel gegeben, ehe er sich aus der Umklammerung habe befreien können, dann habe sein Kollege die Polizei verständigt. Von der Brünner Straße sei er dann mit der Rettung ins Krankenhaus gebracht worden. "Wollen Sie Geld vom Angeklagten haben?", fragt der Richter. "Ja." – "Wie viel?" – "Das, was mir zusteht. Ich kenn mich da nicht aus." – "Sie müssen mir eine Summe nennen." – "Na ja, dann 500 Euro."

Was relativ viel ist, denn laut Amtsarzt erlitt H. bei der von ihm geschilderten Auseinandersetzung keine sichtbaren Verletzungen, sondern angeblich nur eine Prellung der Halswirbelsäule und des Ellenbogens. Auch bei A. stellte der Mediziner übrigens Prellungen fest.

Blickkontakt aus Sicherheitsgründen

Aufklärung, was damals wirklich geschehen ist, kann also nur der zweite Zugbegleiter bringen. "Was haben Sie gesehen?", interessiert Allmayer daher. "Überwiegend nicht viel", lautet die Antwort. Er sei selbst mit der Fahrgeldnachforderung bei einer Dame beschäftigt gewesen, habe aber, wie üblich, aus Sicherheitsgründen Blickkontakt zum Kollegen gehalten.

"Anfangs war alles entspannt, dann habe ich gesehen, wie H. in den Fahrgastraum hineingezogen wurde", erinnert er sich. Der nicht sehr bahnaffine Richter lässt sich den Begriff Fahrgastraum erklären – gemeint sind die paarweise gegenüber angeordneten Vierersitze.

"Wie ist er hineingezogen worden?", ist Allmayer ob dieser neuen Version verwirrt. "Der Kollege hatte die rote Karte des Kunden in der Hand, dann habe ich gesehen, wie eine andere Hand die Karte packte und sie wegziehen wollte. H. ließ sie aber nicht los. Dann ist er hineingezogen worden." Als er dazukam, sei sein Kollege auf dem Angeklagten gelegen – ob auf dem Boden oder den Sitzen, weiß der Zeuge nicht mehr.

Zeuge bemerkte keinen Angriff

"War da irgendwas bei Herrn H.?", interessiert den Richter weiter. "Ist Ihnen davor irgendwas aufgefallen?" – "Na", verneint der Zeuge. Möglicherweise habe A. seinen Unmut geäußert, das sei üblich, lautstarke Beschimpfungen habe es aber nicht gegeben. Ein interessantes Detail kann der Zeuge noch liefern: In der Brünner Straße habe H. ihm gesagt, er habe Schmerzen – allerdings irgendwo unterhalb des Brustbereichs und nicht in der Halswirbelsäule.

Dann plaudert der Zeuge noch etwas aus dem Aufbewahrungsort für Schneiderutensilien: "Die Aggressivität der Fahrgäste ohne gültigen Fahrschein ist leider in der Corona-Zeit immer größer geworden." – "Warum? Weil die Menschen gereizter sind oder weil sie weniger Geld haben?", fragt der Richter. "Beides. Die Zeiten sind sehr ...", vollendet der Zeuge seinen Satz nicht. Eine Kollegin habe ihm erzählt, sie habe Schläge kassiert, ein anderer Zugbegleiter sei erst unlängst auf der Franz-Josefs-Bahn von einem 16-Jährigen mit einem Messer gestochen worden. "Dann ist es eh sicherer, wenn ich mit dem Auto fahre", merkt Allmayer an.

Dankbarer Angeklagter

Auf den Richter macht der zweite Zeuge jedenfalls "einen sehr guten Eindruck", wie Allmayer seinen nicht rechtskräftigen Freispruch begründet. Es habe offenbar eine Meinungsverschiedenheit gegeben und irgendwie seien der Angeklagte und H. zu Sturz gekommen. Wie, könne er nicht feststellen. "Danke Ihnen, Herr Richter! Danke vielmals!", freut sich der weiter unbescholtene A., ehe er mit einem freundlichen Gruß den Saal verlässt. (Michael Möseneder, 14.4.2021)