In Ländern wie Ecuador wurden Flüssen eigene Rechte zuerkannt, die vor Gericht geltend gemacht werden können. Aber nicht immer können sie sich durchsetzen.

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Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Baum und könnten sprechen. Sie stünden inmitten eines großen Waldes am Rande einer Stadt, gleich neben dem Wanderweg, der von den menschlichen Stadtbewohnern als Naherholungsgebiet genutzt wird. Wären Sie den Spaziergängern freundlich gesinnt? Was würden Sie den örtlichen Politikern ausrichten, die planen, den Wanderweg zu einer Straße auszubauen? Welche Interessen hätten Sie, wenn Sie ein Fisch wären, der in dem Fluss neben dem Wald lebt, oder wenn Sie gar der Fluss selbst wären?

Diese Gedankenexperimente, die auf die meisten wohl etwas skurril wirken, sind tatsächlich Teil ernsthafter Überlegungen. Bereits seit einigen Jahren haben sich Wissenschafter und Wissenschafterinnen in den Niederlanden zusammengetan, um das "Parlament der Dinge" zu erschaffen. Die Idee: Statt in Parlamenten nur Menschen bestimmen zu lassen, sollen Pflanzen, Tiere, Flüsse und Wälder eine eigene Stimme bekommen. Wann immer sie von größeren menschlichen Vorhaben betroffen ist, soll die Natur durch Wissenschafter oder NGOs vertreten werden, die wie eine Ombudsperson versuchen, die alleinigen Interessen von Pflanzen und Tieren zu wahren.

Neue Form der Empathie

Noch ist das Projekt, das ursprünglich auf den französischen Philosophen Bruno Latour zurückgeht, äußerst experimentell. Den Wissenschaftern gehe es vorerst darum, die Natur für die Menschen begreifbar zu machen, heißt es von diesen. Sie wollen den Lärm, den Fische und Delfine durch den Schiffsverkehr erleben, für Menschen hörbar machen, oder Menschen die Welt zeigen, die ein Aal unter Wasser erlebt. Dadurch soll eine neue Form der Empathie mit den Lebewesen auf dieser Welt möglich sein.

Aber welche Interessen haben Tiere genau? Sie können Schmerzen und Freude empfinden, viele verfügen über ein ausgeprägtes Sozialsystem, insofern haben sie Interesse daran, nicht zu leiden und zu überleben, argumentieren Tierschützerinnen. Aber können auch Flüsse und Wälder ein Eigeninteresse haben? Wie sehr könnten sich die Ombudspersonen im Parlament gegen industrielle Interessen durchsetzen? Und ist die Perspektive am Ende doch wieder von der "westlichen" Sicht auf die Natur geprägt, die versucht, Tiere zu vermenschlichen?

Natur als Rechtssubjekt

Zwar gibt es bis jetzt noch kein solches Naturparlament. Trotzdem nimmt die Idee, der Natur eine eigene Stimme zu geben, in immer mehr Ländern konkrete Formen an, indem Flüssen, Seen oder Pflanzen eigene Rechte zugesprochen werden, die vor Gericht durchgesetzt werden können. Bereits 2008 nahm Ecuador die Natur als Rechtssubjekt in seine Verfassung auf und erkannte den indigenen Ausdruck "Pachamama" (übersetzt "Mutter Erde") als Synonym für die Natur an. Jede Person und jede Gemeinschaft könne die zuständige öffentliche Autorität dazu auffordern, die Rechte der Natur umzusetzen, heißt es dazu in der Verfassung.

Die neuen Rechte der Natur hatten in einigen Fällen bereits Auswirkungen. Als vor einigen Jahren der Fluss Vilcabamba durch Straßenbau bedroht war, brachten die lokalen Bürger eine Klage ein und argumentierten, dass der Fluss das Recht habe, seinem natürlichen Lauf zu folgen und dass eine Änderung seines Zustands das Menschenrecht auf eine gesunde Umwelt gefährde. In der gerichtlichen Entscheidungen bekamen die lokalen Bürger und der Fluss Recht. Auch andere wirtschaftlich bedeutsame und umweltschädliche Großprojekte hat der ecuadorianische Verfassungsgerichtshof seither gestoppt. Mittlerweile haben auch Länder wie Bolivien, Kolumbien, Neuseeland und Brasilien einzelnen Flüssen, Ökosystemen und Naturparks eigene Rechte zuerkannt.

Andere Machtstellung

"Bisher und in den meisten anderen Ländern ist es so, dass die Natur als Objekt gesehen wird, das nur unter bestimmen Umständen schützenswert ist", sagt die auf Klima- und Umweltrecht spezialisierte Anwältin Michaela Krömer. Je nach Fall werde die Natur entweder dem Eigentumsrecht, oder als öffentliches Interesse in einer Spezialmaterie aspektweise geschützt. "Das ist eine völlig andere Machtstellung, als wenn die Natur selbst die Stimme erheben und proaktiv werden kann", sagt sie.

Der Erfolg und Vorteil des Naturrechts liege im Detail: Was, wie und in welcher Form eingeführt wird. Denn wie die Rechte der Natur umgesetzt werden können, sei von Land zu Land unterschiedlich, so Krömer. Teilweise werde die Natur durch unabhängige Umweltanwaltschaften oder kollektive Organe vertreten, in anderen Fällen wie Ecuador, wo das Rechtssystem offener sei, könne jede Person die Rechte der Natur vor Gericht geltend machen.

In Österreichs hat die Natur bisher keine eigenen Rechte. Große Hoffnungen, dass die Idee alsbald auch hierzulande großflächig Gestalt annehmen könnte, macht sich Krömer nicht. Statt einer verfassungsrechtlichen Reform wie in Ecuador könnten eines Tages möglicherweise aber bestimmte Ökosysteme, wie beispielsweise die Alpen, die in der Bevölkerung einen hohen emotionalen Wert haben, einen neuen, ganzheitlichen Rechtsstatus bekommen, so Krömer.

Starke wirtschaftliche Interessen

Aber die Vergangenheit hat auch gezeigt, dass es – trotz neuer Rechte – in vielen Fällen nicht gelingt, die "Interessen" der Natur vor Gericht durchzusetzen. In Ecuador waren viele Fälle, die die indigene Bevölkerung gegen Unternehmen vorgebracht hat, nicht von Erfolg gekrönt. Auch in den USA sind Bewohnerinnen und Bewohner des Bundesstaates Ohio, die dafür stimmten, dem stark verschmutzten Erie-See eigene Rechte zu geben, gegen die Interessen der Agrarindustrie abgeblitzt. In Brasilien haben zwar bereits drei Gemeinden die Natur als Rechtsperson anerkannt, trotzdem gehen die Brandrodungen im Regenwald des Amazons beinahe ungebremst weiter.

Mit dem derzeitigen Wirtschaftssystem und den darin verankerten Interessen sei die Durchsetzung einer solchen Idee oft schwierig, sagt Krömer. Dabei könne schlussendlich auch die Wirtschaft davon profitieren, ist sie überzeugt. "Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in Zeiten der Klimakrise: Weg vom menschzentrierten Denken hin zu einer Sicht, die die Natur als Gegenüber betrachtet, von dem wir abhängig sind. Das ist ein Verständnis, das vielmehr der Realität entspricht, nämlich einer Welt, in der alles und jeder miteinander zusammenhängt." (Jakob Pallinger, 25.4.2021)